Abschaffel
damit war Abschaffels Dienst beendet. Eigentlich sollte er warten, bis er den Abzug der Waggons mit eigenen Augen gesehen hatte, aber darauf wollte er heute verzichten. Die Schlußtonnage beider Waggons mußte er auf einen Zettel schreiben und den Zettel auf den Schreibtisch des Verkehrsreferenten legen, weil der Verkehrsreferent über die Entwicklung aller Sammelverkehre eine Statistik führte. Abschaffel legte den Zettel beim Referenten ab, und dabei entdeckte er die maschinengeschriebene Umschlagseite eines Ordners. GESTALTUNG DES ARBEITSPLATZES lautete die in Versalien gesetzte Überschrift. Abschaffel blieb noch einige Augenblicke stehen und las auf der unteren Hälfte der Umschlagseite:
DIESER BERICHT WURDE IN INSGESAMT FÜNF EXEMPLAREN HERGESTELLT. DREI EXEMPLARE BEHÄLT DER AUFTRAGGEBER, ZWEI EXEMPLARE BLEIBEN IM ARCHIV DES INSTITUTS. DIESER BERICHT TRÄGT DIE NUMMER 1.
Sofort war Abschaffel erregt. Obwohl er wußte, um was es sich bei diesem Ordner handelte, tat er vor sich selbst so, als hätte er soeben die Firma dabei überrascht, wie sie das Personal hinterging. Es war entsetzlich. Wenn sich Abschaffel erinnert hätte, daß er noch vor knapp einer Viertelstunde, im Zusammenhang mit der Versenkung von Kippen, aus Übermüdung und Überdruß eine Menge Quatsch gedacht hatte, dann hätte er sich vielleicht sofort vernünftiger verhalten können. Aber weil die Angestellten den großen und wirklichen und einzigen Grund für ihre Existenz nicht finden konnten, stürzten sie sich oft auf kleine und kleinste Gründe, und wenn es nur ein Ordner war, hinter dem sie das Geheimnis ihrer Benachteiligung vermuteten.
Vor ein paar Wochen waren zwei ganz junge, unerträglich herausgeputzte Interviewerinnen eines Marktforschungsinstituts in der Firma erschienen und hatten jeden Angestellten nach der von ihm gewünschten Gestaltung seines Arbeitsplatzes gefragt. Auch Abschaffel war befragt worden. Jedes Interview, das während der Arbeitszeit gewährt wurde, dauerte etwa eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten. Abschaffel hatte längst vergessen, was er geantwortet hatte. Er hatte sich darüber geärgert, überhaupt interviewt zu werden. Er hatte es beleidigend gefunden, weil er sich als Material mißbraucht fühlte. Noch mehr gestört hatte ihn aber der Anblick der Interviewerin, die er eine Viertelstunde neben sich hatte ertragen müssen. Ihr Gesicht war rosa eingepudert gewesen, die Haare fast glitzernd blond, der Mund schimmernd rot, und Abschaffels Antworten notierte sie mit Händen, an deren Enden sich tiefrote Fingernägel befanden, die weit über die Fingerenden hinausragten. Sie trug einen eng über die Brust gespannten weißen Pulli, und unter dem Pulli bildete sich ein trägerloser Büstenhalter ab. Eine Frau wie ein Lutscher. Es hätte gut zu ihr gepaßt, wenn man sie mit einem Zaubertrick auf die Größe eines Eis-am-Stiel hätte verkleinern können, um sie dann durch Lutschen restlos aufzulösen. Abschaffel hatte wieder nicht gewußt, ob er diese Frau begehren oder verachten sollte, und aus abwehrender Ratlosigkeit hatte er ihre Fragen nur nachlässig und unernst beantwortet.
Nun lag offenbar das Ergebnis der Befragung vor, und der Referent hatte vergessen, den Ordner mit nach Hause zu nehmen. Abschaffel nahm die Studie an sich und trug sie an seinen Arbeitsplatz. Er spürte, daß ihn die Studie nicht interessierte, aber er begann darin zu lesen, und er wußte sofort, daß er die rund vierzig Seiten hier nicht zu Ende lesen konnte. Er würde die Studie heute mit nach Hause nehmen. Der Referent kam sowieso immer später, und wenn er, Abschaffel, morgen etwas früher kam, konnte er den Ordner wieder unbemerkt an dieselbe Stelle zurücklegen. Er beschloß, sofort nach Hause zu gehen. Er kam sich raffiniert vor, sogar fast kühn. So etwas hatte er noch nie gemacht. Die Befriedigung über seine Kühnheit verschleierte nur, daß seine Neugierde auf die Studie schon erheblich nachgelassen hatte. Was sollte schon darin stehen? Die einen wünschten sich bequemere Stühle, die anderen größere Schreibtische. Als er das Büro verließ, hatte er sich vorgenommen, mit der Studie zu Hornung zu gehen und ihn zum Mitwisser zu machen. Hornung war der richtige Mann dafür. Etwas zu wissen, was die anderen nicht wußten, wirkte auf Hornung noch stärker als auf Abschaffel. Wann immer es ging, verschaffte sich Hornung Einblick in die Korrespondenz von anderen Kollegen. Offenbar kam er sich dadurch gesicherter vor. Manchmal
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