Abschalten: Die Business Class macht Ferien (German Edition)
schon früher hätte auffallen können. Aber den Trend erkennen ist das eine. Ihn richtig interpretieren das andere. Und das hat seines Wissens bisher noch niemand getan. Jedenfalls nicht in seiner Branche.
Die nächsten Tage verbringt Weder damit, den Trend zu deuten. Warum wollen junge Frauen aussehen, als würden sie im Hochsommer ihre neuen Skischuhe einlaufen? Wollen sie zeigen, wie fest sie mit beiden Füßen auf dem Boden stehen? Oder ist es die Ironisierung des männlichen Elements? Der Mut zur – wenn auch nur partiellen – Hässlichkeit? Die Abschreckung mittelalterlicher Herren mit Sonnenbrille, die ihnen hinter der Financial Times auf die Beine starren? Die Faust aufs Auge des Voyeurs? Oder handelt es sich einfach um die Betonung des Schönen durch den Kontrast des Unschönen? Diskrepanz um der Diskrepanz willen? Stilbruch als Stil?
Bis zum Ende der Ferien widmet sich Weder in Anschauung und Theorie intensiv dem Studium dieser Frage.
Am ersten Arbeitstag ordnet er an, die neue Abfüllanlage KX 234- GS auf 120-Millimeter-Stahlprofile zu stellen und die Schweißnähte roh zu belassen.
Held der Arbeit, Räber
»In den Ferien?« Ein ungläubiges Lächeln macht sich auf Fred L. Hubers (Präsident, CEO ) Gesicht breit. »Sie meinen, Sie befinden sich nächste Woche in den Ferien? Ich habe Sie richtig verstanden, nächste Woche, so kurzfristig?« Dann ändert sich sein Ausdruck, er mustert Räber plötzlich besorgt. »Sie sind doch nicht etwa krank, Michel?«
»Nein, nein, ich bin okay. Es handelt sich um normale Ferien. Seit letztem Dezember auf der Ferienliste.«
Hubers Augen ruhen lange auf seinem Verkaufsdirektor. Ohne Vorwurf, ohne Tadel, aber voll tiefer Traurigkeit. Dann reißt sich sein Blick los, schweift langsam über den schwarzen Eschenkorpus, die Ledersitzgruppe, die Flip-Chart. Wo bin ich, Fremder unter Fremden? Wie lange schon? Wie lange noch?
Schließlich seufzt er: »Normale Ferien. Aha. Normale Ferien.«
Räber rutscht unbehaglich auf seinem Fauteuil. »Ich habe noch über zwanzig Tage vom letzten Jahr«, sagt er und könnte sich ohrfeigen für den defensiven Tonfall.
»Aber ich bitte Sie, Michel. Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen.« Huber strahlt Güte aus, Verständnis, Väterlichkeit. »Jeder hat Anspruch auf seine Ferien.« Er gibt sich einen Ruck, macht eine verkrampft wegwerfende Handbewegung und lächelt tapfer: »Dann verschieben wir das doch einfach auf übernächste Woche.«
Räber schweigt betreten. Ein schrecklicher Verdacht bemächtigt sich Hubers. »Sagen Sie bloß, Sie planen zwei Wochen, Michel.«
»Neinnein!«, ruft Räber aus, »neinnein!«
Huber atmet auf.
»Drei Wochen, eigentlich«, stammelt Räber, »drei Wochen, ursprünglich, also geplant, ehem.«
In diesem Moment schiebt sich eine schwarze Wolke vor die Abendsonne und verschluckt die langen Schatten auf dem mausgrauen Velours der Führungsetage. Und mit der Dunkelheit breitet sich eine unheilvolle Stille über den beiden Männern aus.
Huber stützt seine Stirne in die flache Rechte. Weint er?
Dann, nach einer Ewigkeit:
»Michel?«
»Ja, Chef?«
»Michel, haben Sie familiäre Probleme?«
»Nein, wieso?«
»Es ist nicht gut für die Unternehmung, wenn ihr Management familiäre Probleme hat.«
»Ich habe keine familiären Probleme, wir wollten nur drei Wochen ans Meer, ursprünglich.«
»Und das sollen Sie auch, Michel, das sollen Sie auch. Ich mache persönlich Ihre Ferienablösung. Die Familie geht vor.«
Huber zückt eine Füllfeder, legt seinen Schreibblock zurecht. »Briefen Sie mich, Michel, was sind Ihre Pendenzen?«
Am gleichen Abend bringt Räber seiner Frau einen Strauß Rosen heim.
»Ist wieder etwas mit den Ferien?«, fragt sie in der Küche, als sie die Stengel schräg anschneidet und ihn die Kinder aus grellen Pyjamas misstrauisch mustern.
»Ich kann nur eine Woche.«
»Warum?«
»Der Chef meint sonst, ich hätte familiäre Probleme.«
Aus der Arbeit des Krisenstabs
An einem gewöhnlichen Mittwoch treffen sich Favre, Pfander, Menzel und Stefanie Rutzer zu einer kurzfristig anberaumten Krisensitzung im Café Marabu, einem unauffälligen, günstig gelegenen Tearoom. »Sag’s ihnen«, fordert Favre Stefanie Rutzer auf.
»Er fährt nicht«, sagte diese nur. Allen ist klar, was sie meint: Otto Kunz, der geschäftsführende Direktor, fährt wieder einmal nicht in die Ferien.
»Vorläufig oder endgültig?«, fragt Menzel, ohne große Hoffnung. Stefanie Rutzer
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