Abschalten: Die Business Class macht Ferien (German Edition)
Straßen sind leer wie nach der nuklearen Katastrophe.
Kölliker erschrickt über das Bild. Keine Ahnung, wie das in seiner sonst nüchternen Phantasiewelt hatte entstehen können. Er steht – im Gegensatz zu seiner fünfzehnjährigen Tochter Linda – der Kernenergie aufgeschlossen gegenüber.
Er schaltet die Anlage ein. Aus den Boxen schluchzt eine heisere Männerstimme einen verzweifelten Flamenco. Eine der CD s, die Eveline als Erinnerung an das gemeinsame verlängerte Wochenende in Sevilla gekauft hat, das er seit zwei Jahren verschiebt.
Er drückt auf »Radio«. Eine freudlose Frauenstimme kündigt das Nonett in Es-Dur op. 139 für Bläser und Streicher von Joseph Gabriel Rheinberger an. Kölliker schaltet die Anlage aus.
Dunkle Vorgärten voller kahler Birken säumen die nass glänzende Straße. Es regnet nicht, aber die Herbstluft ist so feucht, dass er den Scheibenwischer in der Intervallposition laufen lassen muss.
Die Häuser sehen aus wie unbewohnt. Nur selten sieht Kölliker Licht hinter einem milchverglasten Badezimmerfenster. Noch ein einsamer, verantwortungsbewusster Frühaufsteher, denkt er.
Der Parkplatz des Fitness-Parcours ist leer. Das Herbstlaub verdeckt die Markierungen. Kölliker parkt nach Gefühl ein.
Er stellt den Motor ab und schaltet die Scheinwerfer aus. Nur noch das trübe Licht der letzten Straßenlaterne vor der Naherholungszone. Er streift sich das Elastikband der Kopflaterne über die Stirn, steigt aus und fällt in einen leichten Aufwärmlaufschritt. Der weiße Halogenkegel tanzt vor ihm über das glitschige Laub.
Es ist, als seien seine Pumas aus Blei. Jeder Schritt kostet ihn Mühe. Ist er krank?
Beim Grillplatz »Buchfink«, dort, wo er normalerweise einen Zahn zulegt, schaltet er eine Verschnaufpause ein. Er wischt eine Stelle auf der Bank aus einem halbierten Baumstamm mit dem Ärmel halbwegs trocken und setzt sich.
Nur sein langsam sich beruhigender Atem und das eintönige Tropfen des Wassers, das von den schweren Tannenästen fällt. Und zu seinen Füßen das tote Buchenlaub, eben noch Knospe, eben noch sonnendurchglitzertes Blätterdach – und jetzt?
Plötzlich erkennt er die Symptome wieder. Er ist nicht krank. Es ist dieser unausweichliche Kreislauf, dieses ständige Werden und Vergehen, das Kölliker zu schaffen macht. Immer im November passiert es ihm, dass sich der sorgfältig verdrängte Gedanke an die Endlichkeit von hinten heranschleicht und für eine Weile nicht mehr abzuschütteln ist. Alle Versuche sind zwecklos, das weiß er aus Erfahrung. Er muss sich ihm hingeben, bis er von sich aus wieder verfliegt.
Kölliker rafft sich auf. Aber anstatt im Laufschritt die Strecke wieder in Angriff zu nehmen, trottet er schwermütig zum Parkplatz zurück, neben, hinter und in ihm der Gedanke an die Sterblichkeit selbst eines Kölliker.
Eines Tages, denkt Kölliker, wird er nicht mehr sein. Und seine Augen füllen sich mit Tränen des Mitleids.
Nicht mit sich selbst. Mit der KELTRAG und ihren Mitarbeitern, die dann ohne ihn auskommen werden müssen.
Zurück im Büro
Mattle mit Hut
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Mattle in den Ferien einen Hut kauft. Aber das erste Mal, dass er dafür umgerechnet dreihundertsechzig Franken ausgibt. Was er angesichts der Qualität für nicht übertrieben hält. Es handelt sich nämlich um einen wunderbar weichen, federleichten, eierschalenfarbenen Panama, made in Ecuador, woher heutzutage bekanntlich die besten Panamas stammen. Zu Hause würde dieser Hut – falls überhaupt erhältlich – das Doppelte kosten.
Vera kommentiert die Anschaffung mit einem unsensiblen »Wohl verrückt geworden, hundertzwanzig Franken« (er hat den Preis ihr gegenüber etwas geschönt) »für einen Hut, den du zu Hause sowieso nie trägst!«
Während des Heimflugs belastet das Stück die Familienharmonie, wie das schon seine Vorgänger getan hatten. Mit einem Hut in der Hand ist Mattle nicht so einsatzfähig, wie das Vera von einem Vater von zwei Kindern im Vorschulalter erwartet.
Als Mattle am ersten Arbeitstag erwacht, hofft er, dass ihm das Wetter in der Panamafrage einen Aufschub gewährt. Aber als er aus dem Badezimmerfenster schaut, lacht ihn ein Himmel von mediterranem Blau an. Mattle sieht sich gezwungen, den beigen Baumwollanzug anzuziehen und verlässt das Haus unter Veras spöttischem Blick mit Hut.
Als er ihn auf dem Firmenparkplatz aufsetzt, ist das Gefühl von Selbstverständlichkeit, mit dem er ihn in den Ferien
Weitere Kostenlose Bücher