Abscheu
schüttelte ahnungslos den Kopf.
»Das wahre Problem ist, rechtzeitig aufzuhören. Denn man gewöhnt sich an alles. An die Aufmerksamkeit dieser vielen Männer und an die Arbeitszeiten. An die Kolleginnen und die Atmosphäre. Aber vor allem an das Geld. Denn ehe man sichs versieht, arbeitet man an vier Abenden in der Woche und verdient damit mehr, als du in einem Monat als Verkäuferin bekommst. Das ist das Problem daran. Aber Geld bedeutet schließlich nicht alles.«
Ich nickte, als hätte ich sie verstanden, und behielt meine Meinung für mich.
Geld bedeutete alles.
Geld war das Allerwichtigste auf der Welt.
»Du kannst deinen Chef schon mal anrufen«, sagte ich langsam. »Ich komme heute Abend mit.«
Claudette sah mich verwundert an. »Bist du dir wirklich sicher?«
»Ja, ich bin mir sicher.«
11
Von den achtzehn Personen ist nur noch eine Handvoll übrig. Vielen unserer gläubigen Gäste gilt der Sonntag als heiliger Ruhetag, und der beginnt nun einmal streng genommen gleich, um Punkt Mitternacht.
Der Champagner ist ausgetrunken. Die leeren Flaschen stehen auf dem Boden neben dem mit weißem Damast gedeckten Getränketisch, und dazu sehe ich einige unter dem herunterhängenden Tischtuch hervorschauen. Mit der Fußspitze schiebe ich sie noch ein Stück weiter darunter, sodass sie außer Sicht sind. Am liebsten würde ich jetzt gleich mit dem Aufräumen anfangen, aber ich muss damit warten, bis alle weg sind.
Die Gruppe der Übriggebliebenen steht auf der Terrasse vor den offenen Türen und unterhält sich. Von innen klingt gedämpfte Musik, und ich habe hier und da Kerzen angezündet, die ein sanftes Licht verbreiten.
Jetzt, da der Abend vorüber ist, entspanne ich mich allmählich. Meine größte Sorge war Anton, und der ist schon nach Hause gegangen. Er hat heute Abend den Ton angegeben und auch ziemlich viel getrunken. Wahrscheinlich ausreichend, um aus dem Nähkästchen zu plaudern. Doch sooft er auch das Wort ergriff – es war ihm nicht anzumerken, dass er etwas Kompromittierendes über die Gastgeberin wusste.
Ein weiterer Stolperstein waren die Frauen von Stepford, Henriette und Selma, die Ehefrauen von Anton und Robertjan. Schreckliche Weiber, die mich unablässig zu beobachten scheinen, auf der Suche nach Fehlern in meiner Präsentation, kleine Risse, in die sie ihre falschen Klauen schlagen können. Schon seit Jahren bemühe ich mich nach Kräften, bei ihnen nicht anzuecken. Weder durch meine Kleidung, noch durch meine Art, mich zu bewegen – bedächtig, elegant –, und schon gar nicht durch meinen Sprachgebrauch. Ab und zu ertappe ich mich dabei, dass ich in ihrer Anwesenheit noch stärker darauf achte, korrektes Hochniederländisch zu sprechen – eine Gewohnheit, die ich mir übrigens schon zu eigen gemacht hatte, bevor ich Harald kennenlernte.
Doch auch Henriette und Selma mussten sich geschlagen geben. Und soweit ich es einschätzen kann, ist der Abend reibungslos verlaufen. Kein falscher Ton. Zufrieden wirkende Gäste.
Mit dem Weinglas in der Hand schlendere ich zurück zur Gesellschaft. Harald überragt alle anderen bei Weitem. Er ist einen Meter zweiundneunzig groß und geht nicht, wie viele andere Männer seiner Größe, mit nach vorn gezogenen Schultern, sondern wie ein Feldherr durchs Leben. An ihm ist alles groß und imponierend, seine Hände zum Beispiel und seine Füße. Dazu hat er dichtes, lockiges Haar, das ihm wie bei einem Künstler in die Stirn fällt. Er hat tief liegende Augen unter leicht hängenden Lidern und buschige Augenbrauen, die perfekt zu ihm passen. An diesem Abend trägt er seine Lieblingskombination: eine beigefarbene Samtkordjacke, ein hellblaues Hemd und seine McGregor-Hose.
Als ich mich zu der Gruppe geselle, fällt mir auf, wie die Gäste an seinen Lippen hängen. Sie blicken mit glänzenden Augen zu ihm auf, lachen, wenn er einen Witz macht, suchen seine Nähe. Es ist fast schon peinlich. Man könnte meinen, dass so ein Mann sein Charisma schamlos ausnutzt, aber ich weiß es besser.
Harald weiß nicht, welche Wirkung er auf andere hat. Er ist zu sehr damit beschäftigt, sich nach außen hin zu präsentieren und die richtigen Anekdoten im richtigen Moment aufzutischen. Harald ist nicht besonders selbstsicher, aber auf die, die ihn nicht so gut kennen – und das sind die meisten –, macht er einen gebildeten, dominanten Eindruck. Mit seiner sonoren Stimme, seinem distinguierten Aussehen und seiner Körpergröße hat er ein leichtes Spiel.
Diese
Weitere Kostenlose Bücher