Abscheu
Eigenschaften haben auch mich sofort angezogen, als ich ihn zum ersten Mal traf. Ich fand ihn attraktiv und unglaublich interessant. Er strahlte etwas Melancholisches aus, als trage er seelisches Leid mit sich herum, eine tiefe, unerfüllte Sehnsucht. Instinktiv spürte ich das Verlangen, ihn aufzuheitern und mich um ihn zu kümmern. Und damit durfte ich schon erstaunlich bald nach unserer ersten Begegnung anfangen.
Bis heute hat Harald seine melancholischen Anwandlungen – ich weiß, dass er seine Eltern sehr vermisst, vor allem an den Feiertagen und wenn es darum geht, geschäftliche Entscheidungen zu treffen. Er hat nun einmal einen komplexeren Charakter, als es auf den ersten Blick scheint, und das macht, was mich betrifft, einen seiner Pluspunkte aus.
Ich stelle mich neben ihn und nehme seine Hand. Er blickt mich von der Seite an, zwinkert mir vertraulich zu und streichelt mit dem Daumen über mein Handgelenk. Dann unterhält er sich angeregt weiter mit dem Beigeordneten des Stadtplanungsamts, den er mir früher am Abend als Dennis van Gelder vorgestellt hat. Anhand der Art und Weise, wie Harald mit dem Mann umgeht, vermute ich, dass er unseren Bauplänen aufgeschlossen gegenübersteht.
Eine knappe Stunde später stehen wir auf der anderen Seite des Hauses nebeneinander im Mondlicht auf dem Kies. Die roten Rückleuchten des Citroëns, den unser Steuerberater fährt, verschwinden schnell zwischen dem dichten Grün in Richtung des Deichs.
Ich atme tief durch und bin in Gedanken schon wieder beim Aufräumen. Am liebsten würde ich sofort loslegen, denn nichts ist ernüchternder, als morgens mit dem Chaos des Abends zuvor konfrontiert zu werden.
»Mission erfüllt«, sagt Harald neben mir.
»Klappt es mit dem Bau?«
Mit seinem Feldherrenblick schaut er in die Ferne. »Dennis sieht keinen Hinderungsgrund. Natürlich muss er die Baupläne sehen, und es gibt noch einige Haken und Ösen, aber er glaubt, dass er damit fertigwird.«
»Er war ziemlich guter Laune, stimmt’s?«
»Wäre ich auch an seiner Stelle. Ich habe ihm und seiner Frau ein Essen im ›Chalet‹ versprochen. Für die viele Mühe. Aber was soll’s, wir haben es wieder einmal geschafft.« Er dreht sich zu mir und nimmt mich in die Arme. Dann beugt er sich nach vorn und flüstert: »Toller Abend, Liebling. Dickes Kompliment. Das hast du ausgezeichnet hinbekommen in einer so kurzen Zeit.« Er küsst mich auf die Stirn. »Du bist Gold wert.«
»Ich habe gesehen, wie du dich mit dieser – wie heißt sie gleich wieder – Bianca van Laar, glaube ich, unterhalten hast. Wie findest du sie?«
»Wie ich sie finde? Ganz ehrlich?«
Ich nicke.
»Ordinär. Ich verstehe wirklich nicht, was Bernard an ihr anzieht.«
Ich verstehe das sehr gut, behalte meine Meinung aber wohlweislich für mich.
»Sie passt nicht in unsere Kreise«, fährt Harald fort. »Wenn Bernard sich einmal im Bett ausgetobt hat und sein Verstand wieder halbwegs funktioniert, wird er sich in Grund und Boden schämen. Unter Garantie.«
Unsere Kreise …
Das hat er tatsächlich gesagt. Wortwörtlich. Und ich weiß, dass er es genau so meint, auch wenn er es im nüchternen Zustand sicher anders ausgedrückt hätte. Früher wäre ich sofort hochgegangen wie eine Rakete, wenn jemand mir gegenüber solche snobistischen Äußerungen gemacht hätte. Regelrecht zuwider wären sie mir gewesen. Aber jetzt ist alles anders, und ich weiß genau, warum. Ich fühle mich inzwischen hier zu Hause und kann Haralds Ansichten nachvollziehen.
Harald wurde nach christlichen Maßstäben erzogen, zwar nicht extrem rigide, aber dennoch. Sensibel, wie er ist, nimmt er an einer ganzen Reihe von Verhaltensweisen Anstoß, die ich früher als völlig normal betrachtet habe: Kaugummi kauende Frauen, schlampige Kleidung, lautes Reden, unbedachte Meinungsäußerungen, eine grobe Ausdrucksweise und natürlich Fluchen, Tätowierungen, Piercings sowie moderne Wohnviertel und Bürogebäude.
»Vielleicht ist sie sogar eine Prostituierte«, spekuliere ich. »Er hat sie in einem einschlägigen Etablissement kennengelernt und sich in sie verliebt.« Ehe ich michs versehe, ist es heraus. Ich erschrecke mich selbst.
Harald hält mich auf Armeslänge von sich weg und zieht die Augenbrauen hoch. »Was redest du denn da? Bernard würde doch niemals eine Nutte in mein Haus bringen!«
»Kleiner Scherz«, hauche ich schnell und ringe mir ein Lächeln ab. Dann lege ich den Kopf in den Nacken, recke mich auf die Zehenspitzen
Weitere Kostenlose Bücher