Abschied aus deinem Schatten
beigefügte Geld. Denk daran, Cary, ich habe dich lieb und denke immer an dich. Vielleicht sehen wir uns ja bald. Dein Dad.”
Die Zigarette war heruntergebrannt. Rowena zündete sich eine neue an, legte nach einem weiteren Schluck Wein das Geld zur Seite und steckte die Karten wieder sorgsam in die Kuverts zurück. Die an Claudia adressierten Schreiben, allesamt Geburtstags- und Weihnachtsgrüße mit geringen Geldsummen, umfassten einen Zeitraum von sechs Jahren. Die dazugehörigen Zeilen waren knapp gehalten und weniger emotional als die an Cary. „Ich vermisse dich. Alles Liebe, Dad.” Oder „Ich denke an dich, dein Dad”. Zu dem Zeitpunkt, als die erste Karte eintraf, musste Claudia fünf gewesen sein und beinahe elf, als Jeanne die letzte ungeöffnet weggelegt hatte. Claudia hatte weniger darunter gelitten, dass der Vater weggegangen war, als die älteren Geschwister, ja, es hatte fast so ausgesehen, als habe sie seine Abwesenheit gar nicht richtig bemerkt, denn sie hatte sich weiterhin so exzentrisch und spitzbübisch verhalten, wie es ihrer Art entsprach.
Auch diese Karten steckte Rowena sorgfältig in die Umschläge zurück, das Geld allerdings nicht. Nun, nachdem sie das Weinglas geleert hatte, widmete sie sich den verbliebenen Karten. Sie hätte sich gern noch ein Glas Wein geholt, ließ es jedoch besser bleiben, zumindest vorläufig. Später könnte sie immer noch zwei, drei Gläschen trinken – das reichte, um allem die Schärfe zu nehmen und die Sinne zu betäuben, ohne dass sie gleich einen Kater riskierte.
Mit bebenden Händen hob sie den ersten Umschlag mit ihrem Namen darauf vom Stapel. Er trug den Poststempel von Stamford, aufgegeben am 10. Juli 1963, eine Glückwunschkarte zu ihrem siebzehnten Geburtstag mit fünfzig Dollar darin.
„Meine liebste Rowlie, wie sehr hätte ich mir gewünscht, bei deinem Geburtstag dabei sein zu können! Doch es geht nicht, und deshalb küsse und umarme ich dich auf diese Weise viele, viele Male. Ich verspreche dir, dass ich dich bald besuchen komme. Bis dahin kauf dir ein paar neue Bücher, mein Schätzchen. Und wenn du sie liest, dann wirst du hoffentlich an deinen dich liebenden Dad denken.”
Tief betroffen presste sie die Karte auf die Brust. Ihre Augen brannten.
Wie konntest du nur vergessen, dass dein Vater dich Rowlie nannte? Etwas so Bedeutendes vergisst man doch nicht!
Seine Zeilen brachten so vieles zurück: die Erinnerung an die Geborgenheit in seinen Armen, wenn er abends eine Gutenachtgeschichte vorlas; an den Ausflug zum Zoo in der Bronx, bei dem Claudia plötzlich verschwunden war, sodass ihr Vater, bemüht, seine Panik zu überspielen, mit Rowena im Laufschritt suchend den ganzen Weg zurückverfolgen musste; seine Erleichterung, als sie die Kleine endlich fanden, die völlig hingerissen einen Löwen betrachtete, der friedlich in seinem Gehege lag, sich die Pranken leckte und Claudia dabei unverwandt ansah. Sie erinnerte sich auch an den Ostermorgen, an dem sie früh aufgewacht war, aus ihrem Zimmerfenster schaute und sah, wie ihr Vater, im Schlafanzug noch, bunte Schokoladeneier im Garten versteckte.
Alles, für das Jeanne angeblich keine Zeit fand, hatte er mit den Kindern gemacht: Er hatte Fahrten in die City zu einer Broadway-Matinee organisiert, hatte sie in behelfsmäßige Kostüme gesteckt und ihnen die Gesichter bemalt, damit sie zu Halloween in der Nachbarschaft Süßigkeiten sammeln gehen konnten. Sie hatten mit ihm ausgedehnte Spaziergänge gemacht, so genannte „Streifzüge durch die Natur”, bei denen Wildblumensträuße für die Mutter gepflückt wurden, die die etwas struppigen Mitbringsel dann mit schmallippigem Lächeln, das ihre Gleichgültigkeit nicht zu verbergen vermochte, entgegennahm. Am Sonntagnachmittag gab es Touren hinaus aufs Land, Besuche bei den „anderen” Großeltern in Avon, bei seinen Eltern, Anne und Bickford Graham, die stets sofort aus dem Haus eilten, sobald sie nur den Wagen in die Einfahrt einbiegen hörten. Als kleiner Fratz hatte Claudia die beiden Grandie und Pickle genannt – wieder etwas, was Rowena entfallen war.
Aus ihren Kindertagen hatte sie viel mehr vergessen als behalten, bedingt durch eine anmaßende, selbstsüchtige Frau, die ihren eigenen gesellschaftlichen Belangen oberste Priorität einräumte. Die drei Kinder, die sie bekam, waren zufälliger Ballast und gehörten gezwungenermaßen zur Ehe dazu. Nach ihrer Auffassung hatte sie ihren Beitrag zur ehelichen Vereinbarung geleistet,
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