Abschied aus deinem Schatten
auf eigenen Beinen stehst, macht es wenig Sinn, dir weiter zu schreiben. Das heißt nicht, dass ich von nun an nicht mehr an dich denke, denn das werde ich immer. Vielleicht findest du eines Tages meine Briefe. Dann wirst du wissen, dass ich nie aufgehört habe, dich zu lieben, nicht eine Minute. Ich hoffe, das Leben meint es gut mit dir, Liebes. Und solltest du jemals irgendetwas brauchen: Ich bin hier und warte auf den Tag, an dem das Telefon läutet und die Stimme am anderen Ende deine Stimme ist …”
Den Blick auf das Foto von ihrem Vater und seiner neuen Familie gerichtet, saß Rowena eine ganze Weile da, einerseits froh über sein spätes Glück, andererseits tief bewegt angesichts all der Zeit, der Aufmerksamkeit und der Liebe, die er für seine Zeilen geopfert hatte. Beiden, ihr und ihm, hätte es unendlich viel bedeutet, hätte sie nur einen der Geburtstags- oder Weihnachtsgrüße erhalten. Doch nun war sie endlich im Besitz der Briefe, und vielleicht war es noch nicht zu spät für den längst überfälligen Besuch. Falls George Graham überhaupt noch lebte! Sie schrieb sich die Adresse und die Telefonnummer in Vermont auf, nahm das Weinglas und die Zigaretten und stieg erschöpft die Kellertreppe zur Küche hinauf.
Die Lust auf Alkohol war ihr vergangen. Sie stellte das Weinglas im Spülbecken ab und trat mit einer Zigarette zwischen den Fingern ans Fenster, um hinauszusehen in den Garten, der nunmehr fast wieder seine frühere Gestalt angenommen hatte und dem Garten ihres Vaters glich. Schniefend nestelte sie ein Papiertuch aus der Tasche. George Graham, da war sie ganz sicher, hätte seine Freude am Resultat ihrer Mühen gehabt.
22. KAPITEL
B ereits zum zweiten Mal passierte es ihr, dass sie in ihrem Bett in der Novelle von Conrad las, bis die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen und sie zwar einschlief, doch drei Stunden später wieder hellwach war. An Einschlafen war nicht mehr zu denken, dazu ging ihr zu viel im Kopf herum. Nach so vielen Jahren, vermutete Rowena, konnte ihr Vater sich längst im Ruhestand befinden und umgezogen sein. Vielleicht hatte er den rauen Wintermonaten in Vermont den Rücken gekehrt und sich in jahrein, jahraus warmen Gefilden niedergelassen. Wenn das der Fall war, musste sie womöglich einen Privatdetektiv engagieren, um George Graham aufzuspüren. Zu ihrer Furcht, sie könne ihren Vater, kaum dass sie ihn gefunden hatte, schon wieder verloren haben, gesellte sich das Bedürfnis, die genauen Umstände von Claudias Tod zu ergründen. Ungeachtet aller gut gemeinten Ratschläge, die sie erhalten hatte, konnte sie diese Angelegenheit nicht ruhen lassen. Insgesamt standen den wenigen Antworten mehr und mehr Fragen gegenüber, von denen sie langsam, aber sicher zermürbt wurde.
Ohne Licht zu machen, tappte sie durch das dunkle Haus in die Küche, um einen Schluck Apfelsaft zu trinken. Danach ließ sie im Wohnzimmer zum wiederholten Male das Video durchlaufen – ein Ritual, das mittlerweile einer Art Hausaufgabe gleichkam. Extraaufgaben außerhalb des eigentlichen Unterrichtsplans waren für sie zu Schulzeiten nie ein Problem gewesen, hatten sie ihr doch einen berechtigten Vorwand geliefert, sich von allem abzusondern. Die Zimmertür hinter sich geschlossen, hatte sie sich im behaglichen Schein der Schreibtischleuchte über die Schulbücher gebeugt und sich freudig in ihre Schularbeiten versenkt – in die wortgewaltigen Sprachfiguren von Shakespeares Dramen, in die pedantisch dokumentierten Fakten und Daten der Weltgeschichte, in die klinisch kühle Präzision der Mathematik und in die Wunderwelt der Naturwissenschaften. So hatte sie begierig nach Wissen gestrebt, denn irgendwo hatte sie gehört oder gelesen, dass man durch Wissen zur Freiheit gelangte. Durch ihre Teenagerjahre hindurch hatte sie stets diese Freiheit herbeigesehnt, und ironischerweise galt das auch jetzt noch, nach so vielen Jahren. Damals hatte sie vermutet, sie brauche nur zu Hause auszuziehen, um den Kummer und Gram, der mit dem Weggang des Vaters und dem Tod ihres Bruders einherging, hinter sich zu lassen. Wie naiv eine solche Annahme war, hatte der Lauf der Zeit bewiesen. Schließlich hatte sie sich mit erheblich weniger als ursprünglich erwünscht zufrieden gegeben, auch wenn sie insgesamt durchaus nicht schlecht abschnitt. Nunmehr sehnte sie sich nach der Freiheit des Geistes, um ihre Gedanken von dem angesammelten Trödel, jener verstaubten, formlosen Ansammlung von Emotionen und unerledigten
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