Abschied aus deinem Schatten
indem sie die drei Babys austrug. Danach ging es ihr nur noch darum, sie möglichst rasch loszuwerden. Wer machte sich schließlich schon eine Vorstellung davon, welche Mühe es kostete, nach der Geburt wieder die frühere Figur zu erreichen? Monate strikter Diät und Schweiß treibenden Trainings, damit die Garderobe wieder passte! Angesichts dieser Widrigkeiten betrachtete Jeanne es als Zumutung, auch noch von ihr zu erwarten, dass sie sich voll und ganz ihren Kindern widmete. Kleidung, Nahrung und ein Dach über dem Kopf, das musste reichen. „Was willst du eigentlich mehr?” hatte sie einmal, wie Rowena sich nun erinnerte, ihren Mann gefragt. „Soll ich etwa auch noch für sie
leben
?”
Großer Gott! Wie hatte sie so etwas tun können? Ohne die geringsten Gewissensbisse hatte sie den Kontakt zwischen Vater und Kindern einfach rücksichtslos unterbunden! Fröstelnd zündete Rowena sich eine Zigarette an, inhalierte einige Male und las dann die Karten, eine nach der anderen. Sechzehn Jahre ununterbrochener Zuneigung, samt und sonders in einem Pappkarton entsorgt und unter den Trümmern von Jeanne Grahams Leben begraben – ein geborgener Schatz.
„… allmählich habe ich das unbestimmte Gefühl, dass du meine Briefe nicht erhältst. Hoffentlich irre ich mich … Endlich habe ich eine anständige Wohnung mit genug Platz, falls du über Nacht bleiben willst. Anbei findest du meine Telefonnummer, privat sowie in der Kanzlei. Du kannst mich jederzeit anrufen, Mäuschen. Mir fehlt der Klang deiner Stimme, und ich würde dich und deine Schwester so gern wiedersehen …”
„… und jetzt bist du zehn Jahre alt, Rowlie. Ich kann es kaum glauben, dass es schon so lange her ist, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Auf meinem Schreibtisch steht immer ein Foto von euch dreien, aber als es gemacht wurde, wart ihr alle noch Winzlinge … Wenn ich dich besuche, muss ich meine Kamera mitbringen und ein paar Aufnahmen machen, damit ich ein aktuelleres Bild von euch auf den Schreibtisch stellen kann …”
„… nun überlege ich schon eine geraume Weile, ob ich ganz aus Connecticut wegziehe und meine eigene Kanzlei eröffne, vielleicht in Vermont oder New Hampshire. Etwas auf dem Lande könnte mir gefallen, wegen der Ruhe … Ich sage dir Bescheid, Rowlie, wenn es so weit ist. Sollte ich tatsächlich umziehen, werde ich dir mitteilen, wo du mich erreichen kannst …”
„… meine Kanzlei befindet sich im Zentrum von Brattleboro, einer hübschen Stadt. Außerdem miete ich ein Wochenendhaus im Wald, einige Kilometer außerhalb. Es ist genug Platz für dich da, mein Schatz, falls du mich besuchen möchtest. Es wäre so schön, dich wiederzusehen, Rowlie! Wir haben uns lange nicht gesehen, aber ich denke sehr oft an dich und stelle mir immer vor, wie du ganz in dich versunken in einem Buch schmökerst und an einer Haarsträhne kaust. Machst du das noch? …”
„… Seit ein paar Monaten kenne ich eine sehr nette Dame, eine Anwältin wie ich. Weil wir uns dauernd im Amtsgericht begegneten, haben wir uns mal unterhalten und beschlossen, eine Gemeinschaftskanzlei zu gründen. Nun benutzen wir also gemeinsame Räumlichkeiten und sind nicht nur gute Partner, sondern auch Freunde geworden. Ich glaube, sie würde dir gefallen, Mäuschen. Sie heißt Rosemary und liest fast so viel wie du. Immer hat sie ein Buch in ihrer Aktentasche … Ich habe ihr natürlich von dir und deiner Schwester erzählt. Sie würde euch gern einmal kennen lernen …”
„… Ich möchte dir mitteilen, dass Rosemary und ich wahrscheinlich nächsten Monat heiraten. Nun lebe ich fast fünf Jahre allein, mein Schatz, und bis mir Rosemary über den Weg lief, war ich ziemlich einsam. Wir würden uns beide schrecklich freuen, wenn ihr zwei, Claudia und du, zur Hochzeit kommen könntet. Doch daraus wird wohl nichts werden. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du meine Karten gar nicht bekommst, denn ich kenne mein Mädchen doch! Ich hätte doch längst von dir gehört, wenn sie dich wirklich erreicht hätten. Dennoch werde ich dir weiter schreiben; vielleicht besteht ja die Chance, dass mal eine ankommt, und außerdem fühle ich mich dir näher, wenn ich schreibe. Anbei ein bisschen Büchergeld …”
„… Nun bist du also ein Teenager! Herzlichen Glückwunsch! Ich wette, du bist die beste Schülerin in der Klasse, und die hübscheste obendrein! Hoffentlich hast du viel Spaß, mein Schatz! Ich versuche mir immer vorzustellen, wie du
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