Abschied aus deinem Schatten
Familie bezogen, leer waren – bis auf Jeannes Heiratsurkunde und das Scheidungsurteil.
Der dritte Karton enthielt ganze Stapel von Gruß- und Glückwunschkarten, allesamt offenbar bislang ungeöffnet. Als Rowena eine davon wahllos herausgriff, stellte sie zu ihrer Verblüffung fest, dass diese an sie selbst adressiert war. Die nächste war an Claudia gerichtet, die dritte an Cary. Er war mittlerweile zweiunddreißig Jahre tot; die Karte musste demnach vor seinem Tod auf die Reise geschickt worden sein. Ängstlich und gespannt zugleich kippte Rowena den Inhalt der Box zu einem großen Haufen auf den Bridgetisch und machte sich mit fahrigen Bewegungen ans Sichten der Umschläge. Zwei waren für Cary bestimmt, zwölf für Claudia, und auf insgesamt vierunddreißig Kuverts las sie ihren eigenen Namen. Nicht ein einziges trug eine Absenderangabe. Die brauchte Rowena auch nicht. Sie wusste, von wem die Karten stammten: von ihrem Vater.
Nachdem sie die an Bruder und Schwester gerichteten Umschläge vorerst beiseite gelegt hatte, brachte sie die an sie selbst adressierten Karten gemäß Datum des Poststempels in eine chronologische Reihenfolge. Vor ihr lag schließlich eine sich über sechzehn Jahre erstreckende Brieffolge für die Zeit zwischen 1963 und 1979. Um sich zunächst mit einer Stärkung zu wappnen, ging sie in die Küche hinauf, tat den Jogurt in den Kühlschrank zurück und griff sich, nachdem sie sich ein Glas Weißwein eingeschenkt hatte, ihre Zigaretten und einen Aschenbecher. Zurück im Keller setzte sie sich wieder an den Tisch, nippte an ihrem Wein und zündete sich eine Zigarette an. So saß sie da, den Blick auf den Kartenstapel gerichtet, der nun unzweifelhaft beweisen würde, welch erbärmliche Lügen ihre Mutter ihr aufgetischt hatte.
Wie konnte es sein, dass eine Frau ihren Kindern nicht nur das Zusammensein mit dem Vater verweigerte, sondern zudem noch die Wahrheit ins Gegenteil verkehrte, indem sie wieder und wieder behauptete, der Vater mache sich nichts aus ihnen und habe sie nach seinem Weggang gleichsam aus dem Gedächtnis gestrichen? Als Kip von seinem Vater und seinen beiden Halbbrüdern erzählte – jenen „süßen Kerlchen”, wie er sie in unverfälschter Zuneigung genannt hatte –, da hatte Rowena plötzlich und instinktiv erfasst, dass Jeanne ihr dasselbe angetan hatte, was Penny ihrem Sohn antat, etwas so Infames und Herzloses, dass sie es zunächst gar nicht hatte wahrhaben wollen. Vermutlich reagierte sie in dieser Hinsicht ähnlich wie diejenigen Frauen, die ahnungsvoll ihre Partner des Kindesmissbrauchs verdächtigten, denn sie zeigten dieselbe unüberwindbare Abneigung wie sie selbst, eine solche Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen, weil sie unvorstellbar schrecklich war. Doch Jeanne hatte sie hintergangen, und Rowena hatte stets tief im Innern gewusst, dass ihr Vater seine Kinder nicht im Stich gelassen hatte. Ein Mensch wie er, der seine Kinder über alles liebte, hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Kontakt mit ihnen aufrechtzuerhalten.
Vielleicht konnte Kip seiner Mutter vergeben; zu Pennys Ehrenrettung musste man einräumen, dass sie sich stets liebevoll und aufmerksam um ihren Sohn gekümmert hatte. Doch einer Frau wie Jeanne zu verzeihen, die als Mutter versagt hatte, das war unmöglich. Wozu nur hatte sie die Schreiben überhaupt aufbewahrt, wenn sie ohnehin nicht vorhatte, sie an die Kinder weiterzuleiten? Warum hatte sie diese für sie verhängnisvollen Beweismittel nicht längst vernichtet? Schon wieder zwei Fragen, die unbeantwortet blieben.
Nach einem weiteren Schluck Wein griff Rowena zum ersten der beiden an Cary gerichteten Umschläge. Er enthielt eine Geburtstagskarte mit einem Fünfzigdollarschein sowie einigen Zeilen. „Mein lieber Cary”, las Rowena, „ganz habe ich mich noch nicht eingerichtet, aber wenn es so weit ist, komme ich dich und deine Schwestern besuchen. Ich vermisse euch und denke ständig an euch. Ich hoffe, du feierst schön Geburtstag. Alles Liebe, Dad. PS: Anbei ein wenig Bares, damit du dir die Schwimmflossen und die Schnorchelbrille kaufen kannst, die du dir schon so lange wünschst. Bis bald.”
Im zweiten Umschlag befanden sich Weihnachtsgrüße mit weiteren fünfzig Dollar. Dazu hatte George Graham geschrieben: „Mein lieber Junge, eigentlich hatte ich mich so darauf gefreut, mich in den Ferien mit dir zu treffen. Leider konnten deine Mutter und ich uns nicht einigen. Bitte kauf dir etwas Schönes für das
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