Abschied aus deinem Schatten
treffen. Seit du weggegangen bist, ist hier in der Bibliothek nichts mehr so, wie’s mal war. Aber was Besseres, als hier den Hut zu nehmen, konnte dir bestimmt nicht passieren. Ruf mich an; wir verabreden uns zum Dinner, treffen uns vielleicht mit der alten Clique. Alle vermissen dich und lassen dich herzlich grüßen. Tschüss erst mal!”
Die folgenden drei Aufzeichnungen stammten von Penny, die Rowena inständig bat, sich doch endlich zu melden. Ihre ständigen Anrufe gaben Rowena das Gefühl, sie selbst sei diejenige, die im Unrecht war. Am besten, so überlegte sie, schrieb sie ihr ein paar Zeilen und bat sie, sich bis auf Weiteres zurückzuhalten.
Sie drückte die Zigarette aus, trat zum Fenster und schaute hinaus. Ihr war, als spiegele der Garten ihre Gefühle wider – leicht verblüht, bewegungslos. Nicht der leiseste Windhauch war zu spüren; der Himmel war wolkenlos und wie gebleicht in seinem wässrigen Blauweiß. Die Hitze schien sich förmlich gegen das Gebäude zu stemmen, als forsche sie nach Ritzen und Rissen, durch die sie ins Haus eindringen konnte. Rowena ging nach draußen, um den Rasensprenger einzuschalten, kehrte dann ins Haus zurück und nahm wieder ihren Posten am Fenster ein. Die Schatten der Vergangenheit ließen sie nicht mehr los: ihr Vater beim Rasenmähen, ihre Mutter in der Küche, ins Gespräch mit einer der Haushälterinnen vertieft; dann Cary, der sein Fahrrad aus der Garage rollte, und Claudia auf der Gartentreppe, Stufe für Stufe hinunterhopsend und dann wieder nach oben – hinauf und hinunter, immer und immer wieder. In der Erinnerung sah sie so nett aus – ein hübsches Kind mit herrlich ansteckendem Lachen. Und doch: Irgendetwas stimmte nicht mit diesem kleinen Mädchen.
Rowena hätte sie gern festgehalten, jene Szene, die immer wieder jäh in ihrem Gedächtnis aufblitzte. Sie nahm sich einen Magermilchjoghurt aus dem Kühlschrank und begab sich damit hinunter in den feuchtkühlen Keller, um sich Jeannes Kartons vorzunehmen.
21. KAPITEL
M an erkannte auf Anhieb, dass der Inhalt von Jeanne selbst eingepackt worden war, beispielsweise an den aus Zeitungen ausgeschnittenen Todesanzeigen, die, brüchig und vergilbt, in zahlreichen kleinen Umschlägen steckten. Manche der Verstorbenen, in der Mehrzahl stammten sie aus dem Bekanntenkreis ihrer Mutter, kannte Rowena dem Namen nach, die meisten indes nicht. Dennoch las sie jede einzelne Anzeige mit Interesse, so auch die für ihren 1948 verstorbenen Großvater. Über ihn wusste sie nur, dass er vor der Jahrhundertwende aus Paris nach Amerika gekommen war und dort relativ spät heiratete, dass er es in der Folge im Immobiliengeschäft zu etwas gebracht und seiner Frau sowie seinen zwei Töchtern ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hatte. Jeannes ältere Schwester Genevieve war „nach kurzer Krankheit”, wie es in einer weiteren Todesanzeige hieß, im Jahr 1949 gestorben, dann im Jahre 1966 Jeannes Mutter an den Folgen eines schweren Schlaganfalls. Hinsichtlich dieses letzten Todesfalls konnte Rowena sich noch an manches erinnern: an den langen Trauergottesdienst, die beißende Kälte am offenen Grab, an die Haltung ihrer Mutter, die mit versteinerter Miene den Trauerfeierlichkeiten beigewohnt und nicht eine Träne vergossen hatte. Auf Rowena hatte sie in erster Linie zornig gewirkt.
Ein weiterer, größerer Umschlag enthielt eine Reihe von persönlichen und offiziellen Dokumenten: Heirats- und auch Sterbeurkunden ihrer Großeltern, Zeugnisse ihrer Mutter – sowohl von der Grund- als auch von der Oberschule sowie während des Studiums erworbene Leistungsnachweise nebst der Urkunde über ihren am Vassar College erworbenen Bachelor-Grad; eine Fotokopie ihrer Geburtsurkunde; etwa ein weiteres Dutzend Todesanzeigen und verschiedene Zeitungsausschnitte mit interessanten Biografien; aus den 40er- und 50er-Jahren stammende Ausgaben von
Life and Look
, die Rowena für später beiseite legte; einige Dutzend Ansichtskarten, die meisten mit unleserlichen Unterschriften, manche aus fernen Gefilden wie Singapur, andere wieder aus Orten in unmittelbarer Nähe, zum Beispiel aus Boston; und zu guter Letzt das Angebot für den Hauskauf im Original. Des Weiteren fand sich eine Hand voll aus Illustrierten stammender Kochrezepte, was Rowena seltsam vorkam, denn soweit sie sich erinnerte, hatte ihre Mutter nie gekocht. Und noch eigenartiger erschien ihr die Tatsache, dass die Umschläge, die sich auf ihren Vater sowie dessen Seite der
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