Abschied aus deinem Schatten
sie kam, erhoben sich die beiden – eine Form der Höflichkeit, die den Charme der alten Schule versprühte und von Rowena als sehr angenehm empfunden wurde. Innes, der etwa Anfang sechzig war, mit dem typischen, leicht ungepflegten Äußeren des seit längerem allein lebenden Junggesellen, verfiel auf der Stelle in eine langatmige, detaillierte Darstellung sämtlicher von ihm verzehrter Speisen, die er in den höchsten Tönen pries.
Rowena nippte immer wieder an ihrem Brandy, da sie sich des bedrückenden Gefühls von Reids Gegenwart nicht entziehen konnte. Als sie aufschaute, blickte sie geradewegs in seine kristallklaren Augen und war verblüfft über den ernsten Ausdruck, der auf seinem Gesicht lag. Was war nur los mit ihm? Nach ein, zwei Sekunden entspannten sich seine Züge, und sein Lächeln kehrte zurück.
„Colin ist ein Leckermaul”, erklärte er. „Ihm geht nichts über neue Restaurants oder exotische Speisen. Beides muss er unbedingt probieren.”
„Ich würde eine etwas dezentere Definition bevorzugen”, entgegnete Innes, wobei er das Gesicht verzog. „Gourmet vielleicht. Leckermaul – das klingt mir doch ein wenig salopp.”
Für Rowena stand fest, dass seine Persönlichkeit ideal zu seinem Herkunftsland passte. Er verkörperte England regelrecht – formvollendet, doch freundlich, straff und abgeklärt. „Salopp trifft es genau”, sagte sie anerkennend.
„So?” Innes wirkte nun richtig verwirrt.
„Im früheren Leben”, erläuterte Reid, „war Rowena Bibliothekarin.”
„Na, wenn das so ist”, meinte Innes. „Das erklärt natürlich, dass sie stilistische Ebenen zu unterscheiden weiß.”
Rowena musste aufs Neue lachen. „Natürlich!” wiederholte sie, wobei sie seinen britischen Akzent nachahmte. Seine Aussprache gefiel ihr: die gerundeten Vokale, die sorgfältig artikulierten Konsonanten. Er hatte eine ausgezeichnete Sprechstimme.
„Darf man fragen, wie Sie und dieser Riese hier sich kennen gelernt haben?” wollte er von ihr wissen.
In diesem Augenblick erschien Kip mit der Nachspeise und dem Kaffee. Rowena bat ihn, auch für sie eine Tasse zu holen. Denn sie merkte, dass dies eine jener Situationen war, in denen sie beim kleinsten Tropfen Alkohol einen Schwips bekam.
„Kommt sofort”, rief Kip munter und eilte davon.
„Müsste ich Sie als Dr. Innes anreden?” fragte sie. „Sind Sie ebenfalls Psychiater?”
„In der Tat. Allerdings praktiziere ich nicht mehr. Seit ein paar Jahren habe ich einen Lehrauftrag.”
„Eins würde ich gern wissen. Wenden Sie Ihre psychoanalytischen Fähigkeiten immer an, oder bemühen Sie diese nur während der Sprechstunden?”
„Interessante Frage”, bemerkte Innes.
„Allerdings”, stimmte Reid zu, während Kip Rowena den gewünschten Kaffee servierte und sie sich leise bedankte.
„Entweder”, dozierte Innes, während er seine Früchtecreme mit reichlich frischen Beeren löffelte, „hat man eine analytische Ader, oder man hat sie nicht. Hat man eine, dann, so würde ich sagen, ist diese wohl permanent präsent, unabhängig vom ausgeübten Beruf, aber auf unterschiedlichem Level. Was hingegen konstant bleibt, ist eine gewisse Sensibilität, eine Auffassungsgabe für bestimmte Prozesse. Es kommt darauf an, wie aufmerksam man etwas betrachtet. Das allerdings ist der alles entscheidende Faktor. Als Replik auf Ihre Frage biete ich Ihnen somit ein Bild an, analog zur Drei-Stufen-Glühlampe. Sie kann auf drei verschiedene Helligkeitsstufen eingestellt werden. Ich würde meinen, mit den menschlichen Fähigkeiten verhält es sich entsprechend.”
„Mit anderen Worten”, sagte Rowena, „lautet die Antwort also Ja, bis zu einem gewissen Grad schon.”
„Hübsch formuliert, Rowena”, meinte Reid. „Colin, das hast du nun davon, dass du dich hier als blasierter alter Wichtigtuer aufspielst. Reicht eigentlich nicht ein schlichtes Ja oder Nein?”
Zu Rowenas Entzücken brach Innes in so lautes Lachen aus, dass sein Gesicht rot anlief. In diesem Augenblick wirkte er um Jahre jünger, und sie konnte sich lebhaft vorstellen, was für ein Schelm er als kleiner Junge mal gewesen sein musste. Sie merkte zudem, dass Reid ihr allmählich sympathisch wurde, und begann sich zu fragen, wieso sie ihm eigentlich mit solchem Misstrauen begegnet war.
„Stimmt”, sagte Innes prustend. „Je älter ich werde, desto aufgeblasener trete ich auf. Eins geht offenbar mit dem anderen Hand in Hand.”
Reid wies die Erklärung zurück. „Mir
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