Abschied aus deinem Schatten
Kommunikation zwischen den Schwestern könne dadurch vielleicht auf eine neue Basis gestellt werden. Dann allerdings ließen die Anrufe nach. Zum Zeitpunkt von Claudias Tod war es bereits geraume Zeit her, dass Rowena ihre Stimme im Hörer vernommen hatte, die rief: „Ro, Ro, Ro! Wann besuchst du endlich mal wieder dein Schwesterchen? Du willst wohl überhaupt nicht mehr mit mir spielen!” Daraufhin war ihr silberhelles Lachen erklungen, und dann hatte sie unbeschwert weitergeplappert. „Gestern bei Bergdorf bin ich total ausgeflippt! Hab ein Vermögen ausgegeben! Sie hatten ein todschickes Kleid, das dir toll gestanden hätte! In so einem absolut umwerfenden Blauviolett. Würdest du zwar nie tragen, solltest du aber ruhig mal! Leg endlich deine Nonnentracht ab und zieh dir was Hübsches an! Um ein Haar hätte ich es dir gekauft. Aber ich weiß ja, du wärst nur rot angelaufen und hättest verlangt, ich solle es wieder umtauschen. Also hab ich’s gleich gelassen. Wenn nur die geringste Aussicht bestanden hätte, dass du es doch anziehst – ich hätte es glatt mitgebracht! Du trägst so was ja ohnehin nicht, oder?”
Ein blauviolettes Kleid! Mit den Fingerknöcheln wischte Rowena sich die Tränen aus den Augenwinkeln, zog an ihrer Zigarette und widmete sich wieder den Rechnungen. Ihre Telefonnummer in Stamford war, wie ihr nun auffiel, ebenfalls aufgeführt: acht Anrufe im September, vierzehn im Oktober. Es stimmte, damals hatten sie öfter miteinander geredet als in all den Jahren zuvor. Hatte Claudia mit diesen Anrufen etwa auf unbeholfene Weise um Hilfe bitten wollen? Du willst wohl überhaupt nicht mehr mit mir spielen! Wie wahr, Claudia! Weil man sich in Gefahr begab! Wer mit dir spielte, kam nicht ungeschoren davon!
Seufzend drückte sie die Zigarette aus und trank den mittlerweile kalten Tee aus. Nach den Rechnungen zu urteilen hatte Reid das Ausmaß von Claudias Telefonterror doch wohl übertrieben dargestellt. Möglicherweise hatten zwanzig Anrufe in einem Monat schon gereicht und ihn dazu veranlasst, die Behandlung abzubrechen. Dass für November lediglich ein einziger Anruf in seiner Praxis verbucht war und danach keiner mehr, schien diese Tatsache zu bestätigen.
Einigermaßen zufrieden mit ihrer Untersuchung, packte Rowena alles wieder in den Karton zurück. Es war fast zwei Uhr früh, und sie war zu müde, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen, bei welcher Anzahl von Anrufen man denn wohl von Telefonterror sprechen durfte. Das Ganze glich einer dieser abscheulichen Aufgabenstellungen in einer Mathematik-Klassenarbeit, bei der man berechnen musste, wie lange zwei Züge, die sich jeweils mit einer bestimmten Geschwindigkeit fortbewegten, brauchten, um den Zielbahnhof zu erreichen. Rowena stellte die Kiste neben der Hintertür ab und ging zu Bett.
Sie konnte nicht einschlafen. Mit geschlossenen Augen lag sie da, lauschte dem Surren der Klimaanlage im Fenster, spürte erneut die vom Cointreau herrührende Benommenheit, den Mix aus Panik und Stimulation – samt und sonders Symptome, die auf Reids männliche Anziehungskraft zurückzuführen waren, die sie eigentlich hatte ignorieren wollen. Sie war nicht geneigt, um eines Mannes willen ihr bisschen Seelenfrieden aufs Spiel zu setzen. Beziehungen bedeuteten unweigerlich Stress in unterschiedlicher Stärke; nach dem ständigen Hin und Her in ihrer drei Jahre währenden Liaison mit Gil Prasker hatte sie sich geschworen, niemals wieder in irgendeiner Weise nur einer Romanze wegen Kompromisse einzugehen. In den vergangenen zwei Jahren seit der Trennung von ihm war sie in ruhigeres Fahrwasser geraten – bis Claudia starb. Nun hatte ihr Leben wieder eine andere Richtung genommen; sie musste feststellen, dass sie sich mit einem besonderen Erbe ihrer Schwester herumschlug, das sie in vielerlei Weise beeinflusste. Längst Vergessenes meldete sich wieder zurück, und Rowena hätte einiges für ihr vormaliges beschauliches Leben gegeben.
Ein bisschen dieser Beschaulichkeit kehrte wieder in den Mußestunden im Garten und an den Nachmittagen, wenn sie las oder Musik hörte. Doch so sicher und geborgen wie zuvor in der Bibliothek war dieses Leben nun nicht mehr. Nunmehr war sie mit Menschen konfrontiert, zumal mit Männern wie Reid, die kurzerhand ins Restaurant spazieren konnten, sich dort unübersehbar platzierten und darauf bestanden, dass sie sich um sie kümmerte. Lächeln und Lachen, Komplimente und Küsschen auf die Wange – Vorsicht war angebracht. Was
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