Abschied aus deinem Schatten
hoffte, dass sie möglichst gelassen klang.
„Macht nichts, dann eben zum Dinner.”
„Warum?” fragte sie und wagte dabei einen Blick in seine klaren Augen.
„Warum nicht?”
Darauf wusste sie nichts zu sagen. „Rufen Sie mich an”, entgegnete sie. „Dann schauen wir mal.”
„Lassen Sie sich immer so schwer festlegen?”
„Hm, na ja.”
Er lachte, gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte: „Hat Spaß gemacht. Der Cointreau wirkt sich sehr vorteilhaft auf Sie aus. Also, wir telefonieren, und dann sehen wir weiter.”
Verwirrt sah sie ihm nach, als er zu seinem Begleiter zurückging. Innes winkte und warf ihr eine Kusshand zu. Dann verließen die beiden das Lokal.
„Wer war das denn?” fragte Mae, die ein Tablett mit Geschirr in den Händen hielt und Reid hingerissen nachschaute.
„Claudias Psychiater”, erwiderte Rowena, die Reid ebenfalls nachsah.
„Nein!”
„Doch!”
„Nein!” Mae konnte es nicht glauben. „Diese Seelenklempner sind doch hässliche Schwabbeltypen mit Schuppen, uralten Anzügen und ’ner gewaltigen Macke. Der da ist aber ein absoluter Traumtyp!”
Rowena machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Was denn – finden Sie das etwa nicht?” Maggie war erschüttert.
„Ach, er ist nicht übel.”
„Nicht übel? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst! Hätte er mich auf die Wange geküsst, ich wäre ihm gleich nachgerannt! Aber was soll’s! War wohl nichts!”
Mae setzte ihren Weg mit dem Tablett fort. Rowena hingegen riss sich aus ihrer Erstarrung, erleichtert, dass der Abend endlich vorüber war. Sie war erschöpft, als habe sie einen stundenlangen Dauerlauf absolviert. Falls Reid sich tatsächlich melden sollte, dann, so beschloss sie, wollte sie seine Einladung auch annehmen. Sie wusste jedoch, dass er ohnehin nicht anrufen würde. Er hatte nur höflich sein wollen.
11. KAPITEL
A ls Rowena an diesem Abend nach Hause kam, fiel ihr plötzlich eine Möglichkeit ein, mit der sich zumindest ein Teil von dem, was Reid ihr über Claudias Verhalten berichtet hatte, auf seine Richtigkeit überprüfen ließ.
Sie ging in den Keller und durchsuchte dort eine ganze Reihe von Kartons mit den persönlichen Papieren ihrer Mutter und ihrer Schwester. Bisher hatte sie es nicht über sich gebracht, die Dokumente mit dem Müll zu entsorgen, doch eine genaue Untersuchung der Kartons hatte sie stets aufgeschoben und sich nicht zu dieser voraussichtlich mühseligen Arbeit aufraffen können.
Bei den etwas neuer aussehenden Kartons, die als Erste an die Reihe kamen, stieß sie recht bald auf die richtige Kiste, die sie postwendend nach oben schleppte und auf dem Küchentisch deponierte. Sie duschte schnell, zog den Pyjama an, machte sich eine Tasse Tee und überprüfte dann die Telefonrechnungen ihrer Schwester. Claudias Adressbuch diente dabei als zusätzliche Hilfe.
Laut Reids Aussage hatte Claudia ungefähr drei bis vier Monate vor ihrem Tod, mithin im Spätsommer oder Frühherbst des vorigen Jahres, angefangen, ihn mit ihren ständigen Anrufen zu belästigen. Rowena sortierte die Rechnungen der Telefongesellschaft sorgfältig nach Monaten und nahm sie sich dann nacheinander vor.
Die Telefongebühren für Gespräche nach Greenwich, nach außerhalb des Ortsgesprächsbereiches also, waren getrennt aufgeführt; zwischen Januar und August fanden sich allerdings nur wenige Anrufe mit der Nummer von Reids Praxis. Gut möglich, dass Claudia sich da jeweils um Termine bemüht hatte. Für den Monat August waren vier Anrufe bei Reids Praxis verbucht und zwei bei seinem Privatanschluss, im September vier weitere Praxisanrufe und vier bei ihm zu Hause, im Oktober neun bei der Praxis und elf bei ihm privat. Das waren zwar nicht „dutzende”, wie von Reid behauptet, doch zweifellos eine beträchtliche Anzahl.
Rowena zündete sich eine Zigarette an und dachte nach. Erstmals hatte Claudia irgendwann im August ihre Liaison mit Reid erwähnt, ganz nebenbei eigentlich, während einer der seltenen Unterhaltungen der beiden Schwestern. Entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten hatte sie danach begonnen, sich ein- bis zweimal wöchentlich telefonisch bei Rowena zu melden, ein Verhalten, das bei Rowena damals gemischte Gefühle hinterließ. Einerseits hatte es ihrer Ansicht nach so ausgesehen, als wolle Claudia ihre Gehässigkeit geradezu zur Kunst verfeinern. Andererseits waren die resoluten Monologe ihrer Schwester von einem derartigen Unterhaltungswert, dass Rowena die Hoffnung gehegt hatte, die
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