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Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)

Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)

Titel: Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Boscher
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Rundumschlag, der so gut wie vor niemandem haltmachte. Ich war einer der Ersten, die ins Beratungszimmer gerufen wurden.
    Man hatte sich die Akten angesehen, und da es in meiner Schulakte von gesundheitlichen Schwierigkeiten nur so wimmelte (auch der frühe Tod meiner kleinen Schwester wird eine Rolle gespielt haben), sah man mich anscheinend als potenziellen Kandidaten von Lebensmüdigkeit an. Natürlich fehlte dieser Einschätzung jede Grundlage. Aber dennoch, irgendwas, was ich gesagt habe oder nicht gesagt habe, oder irgendetwas an meinem Benehmen oder in meinem Tonfall oder was auch immer, hatte den Schulpsychologen dazu veranlasst, seinen Verdacht bestätigt zu finden, woraufhin meine Eltern zu ihm gebeten wurden, um einen Generalplan zur allgemeinen Stärkung meiner Zukunftsfähigkeit auszuarbeiten.
    Während meine Eltern bei ihm waren, arbeitete ich allerdings schon an meinem eigenen Plan, der zugegebenermaßen wesentlich bescheidener angelegt war, als das, was dem Psychologen vorschwebte. Denn ich hatte nicht die Zukunft in ihrer ganzen unabsehbaren Abstraktheit vor Augen, sondern die schlichte, konkrete Freude, Kassandra einen Kuss zu ent- und sie auf den Rücksitz zu locken. Die Zukunft, an die ich dachte, war nicht jenes weite Feld, das meine Eltern und ihr Berater besorgt vor Augen hatten, vielmehr erstreckte sie sich nicht weiter als meine Hände fassen konnten.
    Kassandra war auch so eine. Ich meine, auch sie wurde befragt. Denn sie war die beste Freundin von Julia gewesen. Und so trafen wir uns vor dem Zimmer unseres Psychologen, und da wir uns über Julia flüchtig kannten, kamen wir zuerst ins Gespräch und dann vom Höcksken aufs Stöcksken.
    Das mit Julia ging ihr auch an jenem Tage nah. »Ich hab‘ überhaupt nicht gemerkt, dass es ihr so dreckig ging«, weinte sie in meinem Arm, als wir in meinem Auto saßen, »Sie war doch frisch verliebt!«, seufzte Kassandra.
    Dem traurigen Anlass, der uns zusammengeführt hatte, und auch dem Ort entsprechend, den ich – auf Kassandras Bitte hin – angesteuert hatte, nämlich einen Feldweg in Sichtweite jenes nun stoppeligen Feldes, auf dem Julia in goldreifem Weizen ihr Ende gefunden hatte, legte ich meine Doors -Cassette in das Autoradio ein. This ist the end my only friend sang Jim Morrison, aber in diesen Minuten fing die Geschichte zwischen Kassandra und mir an.
    Ob es die Nähe des Todes war, die Kassandra sich nach den traurigen Präliminarien gierig auf mich stürzen ließ? Ein Aufbäumen aller Kräfte des Lebens angesichts seiner dunklen anderen Seite? Kassandra hatte zweifelsohne einen Hang zu einer solchen Sicht der Dinge. Einen Tag nach unserem Kornfeldanfang lotste sie mich raus zum Paulsen-Kreuz, einer Stelle im Wald, an der sich heute zwei asphaltierte Wege gabeln und Bänke im Schatten der ausladenden Bäume zum Verweilen einladen. Vor dreihundert Jahren, als dieser Wald noch dicht und unwegsam gewesen war, hatten dort Räuber einen jungen Mann an einem der starken Äste aufgeknüpft. Wie viele Kinder werden sich wohl, während sie dort auf einer Radtour mit ihren Eltern rasteten und vielleicht ein Bifi zur Stärkung aus der fettigen Hülle schoben, gefragt haben, welcher von diesen Ästen es wohl gewesen sein mag? Ich jedenfalls fragte mich dies jedes Mal. Natürlich auch an jenem Tag, als ich auf einer der Bänke lag und über Kassandras Kopf die Baumkronen in der Abenddämmerung versanken. Einige Tage später trieb uns ihre Veranlagung hinaus zum Brigittenhäuschen. Also stellten wir mein Auto an der einzigen Gaststätte der kleinen Ortschaft in der Nähe ab und gingen zu Fuß zu der von Äckern und abgemähten Maisfeldern umringten Stelle. Eng umschlungen saßen wir eine Weile auf der Bank neben dem kleinen, weiß getünchten Kapellchen, und Kassandra erzählte mir die traurige Geschichte des Bauernmädchens, das hundert Jahre zuvor hier beim Hüten der Kühe von einem Gewitter überrascht und von einem Blitz erschlagen worden war. Und noch während sie davon sprach, bekam ich erneut eine Kostprobe der eigenwilligen, aber durchaus angenehmen Wirkung, die die Nähe von Leid und Tod auf Kassandra ausübte.
    Natürlich las Kassandra Schopenhauer, wobei ich damals selbst nach ihren Erzählungen mit diesem Namen nicht viel anfangen konnte. Ich hatte ihr wohl in dem Maße nicht zugehört, in dem ich sie mir mit meinen Händen ansah (und im Philosophielexikon war ich noch nicht bei Sch angelangt). Heute muss ich allerdings sagen, dass ihre

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