Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)
Schopenhauerlektüre recht selektiv gewesen war. Sie teilte seine pessimistische Diagnose des Weltzustandes, aber nicht seine Therapie. Willensverneinung war nicht ihr Ding. Der einzige seiner Gedanken, der mir in ihrer Formulierung im Gedächtnis geblieben ist, ist, dass sich der Wille am deutlichsten beim Sex zeige. »Und vor allem an der Spitze des Schwanzes!«, so lachte sie und fügte dann schnell hinzu: »Und natürlich auch beim weiblichen Orgasmus!« So steht es zwar nicht bei Schopenhauer, aber nun gut, das war Hermeneutik in Actio, und hätte ich damals den guten Arthur gekannt, so wäre es dennoch sehr unwahrscheinlich gewesen, dass ich Kassandras metaphysischer Rechtfertigung ihrer Vorliebe für Oralverkehr einer Kritik unterzogen hätte. Allerdings hatte ich – wie ich zugeben muss – mit ihrem Orgasmus so meine Schwierigkeiten. Vor ihr war das nie Thema gewesen, zumindest hatte keine darüber ein Wort verloren. Aber für Kassandras Geschmack zeigte sich der Wille bei mir immer zu früh. Schließlich legte sie ihr Schicksal in – wie sie wohl glaubte – kundigere Hände, um sich dabei helfen zu lassen, ihr principium individuationis auf eine Weise zu überwinden, die zwar Jim Morrisons aber nicht Arthurs Zustimmung gefunden hätte. Dass dieser junge Mann ihr zu guter Letzt auf eine weitaus radikalere Weise half, ihr eigenes Ich loszuwerden, als ihr – bei aller romantischen Todessehnsucht – gefallen haben dürfte, ist die Ironie der ganzen Geschichte.
Erst hatte es geheißen, dass es Bremsversagen gewesen wäre, jedenfalls sei keine Bremsspur vorhanden gewesen. Dann hat man in seinem Blut mehr Alkohol gefunden als Bremsflüssigkeit im dafür vorgesehenen Behälter, und da dieser Behälter durch den Frontalaufprall sehr in Mitleidenschaft gezogen worden war, so dass der Bremsflüssigkeitsverlust auch durch den Aufprall selbst verursacht worden sein konnte, kam man schließlich zu dem Ergebnis, die Trunkenheit des Fahrers als Ursache des für beide tödlichen Unfalls anzunehmen.
3.
Es waren düstere Wochen bei uns auf dem Gymnasium. Die Fahne vor dem Schulgebäude hing auf Halbmast. Natürlich wurde auch ich wieder zum Schulpsychologen zitiert, der sichtlich mitgenommen hinter seinem Schreibtisch saß, als ich sein Zimmer betrat. Kaum dass ich auf dem mir zugewiesenen Stuhl Platz genommen hatte, reichte er mir einen Stapel zerknitterter, mit Schreibmaschine beschriebener Blätter. Hast du mir nicht etwas zu sagen? , fragte er, und für einen kurzen Moment schlich sich so etwas wie ein Hoffnungsschimmer in seine Stimme. Nun, es gab nicht viel zu sagen. Was ich in Händen hielt, waren Skizzen zu einem Roman, den ich in jenen Wochen in Angriff genommen hatte. Die Arbeit an meinen persönlichen Aufzeichnungen hatte mir Lust auf mehr gemacht, nun wollte ich mich an die große Form wagen. Und die zerknitterten Blätter waren das Abfallprodukt meiner Bemühungen, von meiner lieben Mutter aus dem Papierkorb geklaubt und aus lauter Sorge um das Seelenheil ihres Sohnes zum Psychologen getragen. Seiten voller Gewalt und toter Mädchen und Frauen, gewiss, aber nichts worüber man sich Gedanken machen müsste. Morde sind in , sagte ich dem Psychologen. Er brauche nur einen Blick auf die Neuerscheinungen oder ins Fernsehprogramm werfen, um zu sehen, dass Serienmörder Hochkonjunktur haben. Das hier, ich wedelte mit den Blättern, sei also eine gute Investition in die Zukunft. Schließlich wolle ich nicht für die Schublade schreiben und als armer Poet enden. Allerdings sei, wie ich ausführte, aller Anfang schwer. Vor allem deswegen, weil ich einen gewissen Anspruch hätte.
Mir schwebte ein atemberaubend spannender Kriminalroman mit einer gehörigen Portion Sex und einer Hauptfigur vor, deren mörderischer Charakter gleichzeitig abstoßend und faszinierend ist. Mutter konnte im Papierkorb nur deswegen fündig werden, weil diese Hauptfigur zu jener Zeit erst ein Homunkulus war, eine ungelenke Marionette, an der man zu allem Überfluss die Fäden deutlich sehen konnte. Zwar gab ich mir alle nur erdenkliche Mühe mich in die lange Ahnenreihe realer wie literarischer Serienmörder mit einer eigenständigen Kreation einzureihen, aber es wollte mir einfach nicht gelingen. Ich schrieb Tatskizzen, bis der Altpapiercontainer vor Blut nur so triefte. Entwarf immer neue Mordszenarien, ließ immer wieder andere Tätertypen mit anderen Modi Operandi auftreten, reihte Ritual an Ritual und schlachtete so innerhalb
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