Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)
erst recht erotisch wirkten und meine Mutter nicht noch auf zusätzliche dumme Gedanken brachten. Dachte ich zumindest. Wie ich dann allerdings erfahren sollte, kannte meine Mutter mich – und das Spiel der Hormone – besser, als ich gedacht hatte. »Genauso ein geiler Bock wie der Vater!«, schimpfte sie, als sie einmal plötzlich in meinem Zimmer stand und ich gerade den Kopf unter Julias Rock hatte. Was erklärt, warum ich nicht sie kommen gehört hatte. »Glaubt bloß nicht, dass ich nicht gewusst hätte, was ihr hier treibt. Für dumm lass’ ich mich nicht verkaufen!«, schrie sie noch. Dann schmiss sie die Hessegedichte zur Tür hinaus und riet Julia (zumindest waren das ihre Worte: »Und dir Schlampe rate ich...!«) besser gleich hinterher zu gehen und: »Lass’ bloß die Finger von meinem Sohn!«
Zwar konnte ich Julia in der Folgezeit doch noch einige Male dazu bewegen, unsere Lektürestunden (abzüglich Lektüre) im Auto zu verbringen, aber irgendwie war seit jenem besitzergreifenden Auftritt meiner Mutter der Wurm drin. Julia war einfach nicht mehr so recht bei der Sache. Vielleicht befürchtete sie, dass jeden Moment das verzerrte Gesicht meiner Mutter hinter der Windschutzscheibe auftauchen könnte? Jedenfalls machte Julia wenig später mit mir Schluss. Das war schade, aber nicht zu ändern.
Genauso wenig zu ändern, wie der dramatische Entschluss, der von allen unbemerkt in Julia gereift sein muss. Sogar meine Mutter ließ sich von der allgemeinen Erschütterung anstecken und änderte ihre Meinung über sie. »Das arme Ding!«, sagte sie, und beinahe wäre ihr eine Träne aus den Augenwinkeln gerutscht.
Es war ein schöner, sonniger Herbstmorgen, an dem Bauer Brandt sie auf einem seiner Felder fand. Obwohl, fand trifft den Sachverhalt nur ungenau. Dicht und trocken wogte der Weizen auf dem Feld, eine goldengelbe reife Pracht. Es war Erntezeit, Brandt hatte sich den großen Mähdrescher von der Genossenschaft geliehen, um seinen Ertrag vor dem nächsten Herbstregen einzufahren. Summend saß er weit über seiner Scholle, blickte zufrieden in den blauen Himmel, kein Wölkchen weit und breit, genehmigte sich stolz auf die voraussichtlich gute Ernte einen, vielleicht zwei selbst gebrannte Korn. Und so war es dann auch dieser große Mähdrescher, der Julia zuerst fand.
Dann erst entdeckte Brandt sie. So stelle ich mir das jedenfalls vor. Ein hässliches Knirschen schreckte ihn aus seinen ertragreichen Träumen. »Scheiß’ Möhre!«, schimpfend, in Gedanken schon die Genossenschaft für ihre mangelhafte Maschine in Regress nehmend, stieg er von seinem Hochstand herunter und ging um den Mähdrescher herum. Dann leerte er erst einmal den Rest der Flasche in einem Zug, bevor er sich in die goldengelbe reife Pracht erbrach. Stoffkreislauf nennt man das wohl.
Julia war bald identifiziert, denn Brandt hatte schnell reagiert. Nicht lange nach Brandts Fund wurde klar, dass sie schon tot gewesen war, als der Drescher sie erfasste, und nicht viel später wurde als Todesursache Tablettenmissbrauch unter übermäßigem Alkoholeinfluss festgestellt. Da hatte man allerdings auch schon den Hesse-Gedichtband gefunden, aus dem sie mir immer vorgelesen hatte, so dass man sich alles zusammenreimen konnte. Unweit von einer Flasche Appelkorn und einigen Tablettenschachteln lag er mit seinem Gesicht im Dreck des Feldes, geradeso als hätte Julia kurz zuvor noch in ihm gelesen und ihn eben erst zur Seite gelegt. Das Gedicht, welches mit seinem verdreckten Gesicht dagelegen hatte, war zusätzlich noch mit einem Marker bunt angestrichen worden, so als hätte Julia darauf wertgelegt, dass es zur Kenntnis genommen würde. Es war ein Gedicht, welches ich kannte, obwohl es nicht zu den von Julia bevorzugten Hessegedichten gehört hatte. Aber einmal, als meine Mutter unsere Lektürestunde störte, da hatte Julia in aller Eile, während ich mir die Hosen hochzog, das Buch aufgeschlagen und auf der erstbesten Seite zu lesen begonnen. An diesem Tage hatte sie Klingsor zecht im herbstlichen Walde erwischt. Und jetzt hatte also für alle offensichtlich Julia im herbstlichen Felde gezecht: Nun am Abend sitz ich, trinke und warte bang,/Bis die blitzende Sichel/Mir das Haupt vom zuckenden Herzen trennt.
2.
Klar, dass diese Umstände den Menschen in Land und Schule nahe gingen, vor allem den Deutschlehrern und Bauern. Hesse wurde aus dem Kanon gestrichen und Korn auch. Eine andere Maßnahme war der schulpsychologische
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