Abschied ist ein scharfes Schwert. Ein Mordsroman (German Edition)
ich in einer Mischung aus Wehmut und Wohlgefühl registrierte. Allerdings gibt es am Niederrhein keine schneebedeckten Berge am Horizont zu sehen, was meinen Sinn für Schönheit doch so sehr anrührte, dass ich meinem ersten Impuls, mich sofort in den nächsten Zug nach Norden zu setzen und in die Heimat zurückzufahren, widerstand und mir etwas zum Frühstücken besorgte, um es dann am Seeufer zu verzehren. Dort am Wasser, das in ruhigen Wellen ans Ufer schlug, spürte ich, während ich erstmals seit Tagen wieder an meinen Aufzeichnungen schrieb, dass nun eine Zeit der Beständigkeit angesagt war.
Nicht, dass ich wünschte, die Erde sollte aufhören sich zu drehen und mit ihr die Uhr des Lebens, um einen Zustand so fixieren zu können, dass man die Dinge in Ruhe betrachten und sie dann wieder in Ordnung bringen kann. Aber ich wollte mich nicht weiter um all die Dinge drehen müssen, die ich nicht im Griff habe, die mir aus den Händen geglitten waren. Und hatte ich in Wuppertal auch geglaubt, dies würde mir dadurch gelingen, dass ich Kilometer um Kilometer zwischen mich und die Dinge legte, so brauchte ich nur an meine Reaktion auf den Verlust des Bierdeckels denken, um zu wissen, dass das nicht die Lösung sein konnte.
Nicht die Lösung, aber anscheinend der Weg dorthin. Diese üppige Frauenstatue, die sich meterhoch über dem Hafenbecken erhob und mir – sich um ihre breiten Hüften drehend – mal die kolossalen, von ihrem steinernen Kleid kaum bedeckten Brüste, dann wieder ihren ebenso ausladenden Hintern entgegenstreckte und dabei sowohl die weltliche als auch die geistliche Macht in ihren hochgestreckten Händen hielt, sagte mir genau dies: Bleib’ an deinem Platz und du wirst die Welt in deinen Händen halten. Und ich verstand den Fingerzeig und suchte mir in Konstanz ein Zimmer in jener Pension, wo ich gerade im Moment, da ich die Zeilen schreibe, an einem Tisch am Fenster sitze.
Und wie wahr: Dass sich manche Dinge von selbst ordnen, wenn man ihnen nur etwas Zeit gibt, ist daran zu erkennen, dass ich heute Mittag mein Auto wiederfand. An einem anderen Ort – Frankfurt zum Beispiel, oder Hamburg, Köln, Berlin... – wäre es dazu aufgrund der Größe wahrscheinlich nicht gekommen, aber Konstanz mit seinen beschaulichen Ausmaßen war mir hold. Zwar hatte mich der Verlust des Bierdeckels anfangs wesentlich härter getroffen als die partielle Amnesie mein Auto betreffend. Aber bald spürte ich, dass es meiner ganzen Art nicht angemessen war, das Auto einfach sich selbst zu überlassen. Ich war zwar beileibe kein Grüner, aber seine Angelegenheiten einfach vor der Haustür anderer abzuladen, war nicht mein Ding. Okay, es wäre keine Absicht gewesen, meinen Müll gewissermaßen jemandem anderen vor die Füße zu kippen, ich wusste halt einfach nicht mehr, wo ich mein Auto abgestellt hatte. Aber Unwissenheit schützt vor Strafe nicht , wie es heißt. Und so bin ich denn wirklich froh, mein Auto in einer Seitenstraße unweit vom See wiedergefunden zu haben.
Es spricht also wirklich alles dafür, sich nicht von den Dingen, die noch nicht so laufen, wie man es sich wünscht, verrückt machen lassen. Heute Nacht werde ich einschlafen und nicht schlecht träumen. Irgendwann werde ich die Unscheinbare erreichen, und sie wird im Urlaub gewesen sein, im Krankenhaus oder auf Studienreise. Ihr Telefon hatte einen Defekt, und sie hatte es die ganze Zeit über nicht bemerkt, sich nur gewundert, warum niemand mehr anruft. Irgendetwas Banales. Und ich werde mich nur noch über mich selbst wundern, warum mir dieses sie nicht Erreichen so zugesetzt hat. Eine Frau, mit der ich einfach nur eine erotische Nacht verbringen wollte, und die dazu nicht parat stand. Wer weiß, ob ich mich nicht, wenn ich sie denn wirklich mal an der Strippe habe – Epiphanie des Fleisches hin oder her –, fragen werde, wie zum Teufel ich eigentlich auf die Idee gekommen bin, ausgerechnet mit der ...? Mit der , an deren Gesicht ich mich ja eh kaum noch erinnern kann.
Ja, wenn sie heute auf der Straße an mir vorbeilaufen würde, so bin ich mir nicht sicher, ob ich sie erkennen würde. Jede Frau, die ich nicht weiter beachtenswert finde, könnte sie sein. Und so werde ich denn wohl bald über diesen Narren, der ich gewesen bin, lachen, der die ganze Zeit einen Bierdeckel durch die Gegend schleppte, als sei er der Heilige Gral, so wie diese kolossale Frauenstatue hier am Konstanzer Hafen, von der ich mittlerweile weiß, dass sie Imperia
Weitere Kostenlose Bücher