Abschied und Wiedersehen
zweiundsechziger Kragen ragte ein dünnes Kinderhälschen, und die Haut schlotterte genauso um seinen Körper wie die viel zu weit gewordenen Anzüge. Wenn er im Hammerteich zum Baden erschien, verdrückte ich mich aus seiner Nähe, weil ich mich fürchterlich genierte, solch eine Jammergestalt zum Vater zu haben. Alfred Kleiber ging es nicht anders; sein Vater, den wir in den vorauf gegangenen Jahren nie anders als >Kugelmann< genannt hatten, weil er ebenso breit wie hoch gewesen war, sah wie ein alter Elefantenbulle kurz vor dem Hungertod aus. Die Haut hing ihm in schlaffen Wülsten am Leibe und über die Badehose wie eine scheußliche Schürze herab. Von dem Globus war nichts als die Achse übrig geblieben.
Wir hatten für den Winter 17/18 im Keller zwölf Zentner Kartoffeln, mehrere Zentner Rüben und Karotten und ein großes Faß voll Sauerkohl eingelagert, den ich gehobelt und mit den Füßen eingestampft hatte. Wir wurden mit diesen Vorräten zu dritt spielend fertig. Aber die ungeheuren Kartoffelportionen, die Vater täglich in sich hineinschlang, um wenigstens ein Gefühl der Sättigung zu verspüren, vermochten seinen körperlichen Verfall nicht aufzuhalten. Und Mutter seufzte oft genug, was für herrliche Bratkartoffeln sie auf den Tisch stellen könnte, wenn sie nur das Fett hätte, das Vater früher, wenn er sich zu den Thüringer Klößen das Fett von dem ausgelassenen Räucherspeck mit dem Suppenlöffel in den Teller geschöpft hatte, aus dem Schnurrbart getropft war. Im Frühjahr 1918 klappte er auf dem Heimweg vom Landgericht vor Schwäche in der Brahms-Straße zusammen und wurde von zwei hilfsbereiten Passanten in unsere Wohnung hinaufgeschleppt. Mutter bekam bei Vaters Anblick das große Zittern und glaubte, nun ginge es mit ihm zu Ende. Ich rannte zu unserm Hausarzt Dr. Landmann, einem ehemaligen Militärarzt, der eigentlich nicht mehr praktizierte, aber kam, wenn er gerufen wurde, und nie ein Honorar verlangte. Ein Gläschen Schnaps schlug er nicht ab, und das konnte Mutter ihm anbieten, denn Tante Elma zwackte ihrem Aurelius Piepus hin und wieder ein Fläschchen Apothekersprit ab, den sie einfach mit Wasser verdünnte. Dr. Landmann nahm einen zur Brust, fühlte Vaters Puls, horchte sein Herz ab und erklärte schließlich, Vater sei gesund wie ein junges Pferd und brauche nichts weiter als vier Wochen Urlaub bei gutem fettreichem Essen. Denn der Mensch sei leider keine Sau, die von Kartoffeln allein fett würde.
»Sie haben leicht reden, Herr Doktor«, sagte Mutter verzagt, »gutes Essen! Woher soll ich es nehmen?«
»Ich habe im letzten Winter meine goldene Uhrkette verfressen«, sagte Dr. Landmann, »Glied für Glied. Aber die hat Ihr Mann, wie ich sehe« - und er klimperte auf Vaters flachem Bauch mit dessen eiserner >Gold zur Wehr - Eisen zur Ehr< Kette - »fürs Vaterland geopfert. Das war zwar patriotisch gehandelt, aber dumm. Vielleicht aber haben Sie noch ein paar silberne Löffel im Schrank...«
Mutter hatte nicht nur silberne Löffel, sie besaß ein ganzes vierundzwanzigteiliges Silberbesteck, das sie lange vor dem Krieg von einer vermögenden Tante geerbt hatte. Dazu gehörten ein Tranchierbesteck und ein schwerer Schöpflöffel; alles lag wohlverwahrt, aber kaum benutzt, in Seidenpapier gehüllt im Büfett. Leichten Herzens trennte sich Mutter von diesen Schätzen nicht, aber es ging um Vaters Gesundheit. Er merkte wohl selber, daß mit ihm etwas geschehen mußte, was ihn wieder zu Kräften brachte, und so ließ er sich von Mutter ohne große Widerstände dazu überreden, den Sommerurlaub an der Ostsee in Kranz zu verbringen. Ihn lockten nicht so sehr Strand und Badeleben als vielmehr die Aussicht, dort von Mutter mit Fischgerichten traktiert zu werden, frischen und geräucherten Flundern, grünen Heringen und delikaten Haffzandern, die es in der Stadt schon lange nicht mehr gab. So fuhr er also an einem freien Nachmittag mit Mutter nach Kranz, mietete am Ortsende, wo es durch die parkähnlichen, aber ziemlich mückenverseuchten Anlagen nach Sarkau ging, eine von jenen Sommerwohnungen, die es in fast jedem Kranzer Hause gab. Zwei Zimmer mit einer winzigen Küche und einer geräumigen Glasveranda, in der man sich tagsüber aufhielt. Natürlich mußten das Bettzeug und das Geschirr mitgebracht werden. Mutter packte, was wir zu dritt benötigten, in den großen, aus Weidenruten geflochtenen Reisekorb, der als Frachtgut auf dem Kranzer Bahnhof aufgegeben wurde. Das ererbte
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