Abschied und Wiedersehen
Schülern der oberen Klassen, die mit dem EK I oder gar wie unser Fliegerleutnant im Glanz des Pour le mérite den Mädchen imponieren wollten und zudem irgend etwas von einem Kriegsabitur läuten gehört hatten, das einem auf eigens dafür eingerichteten Schnellkursen in Lille oder Namur sozusagen nachgeworfen wurde. Es gab tatsächlich einen Fridericianer, der nach dem Verlust einer Hand mit solch einem Kriegsabitur aus dem Feld zurückgekehrt war und inzwischen an der Albertina Jus studierte. Das mag neben echter Begeisterung manchen Primaner verlockt haben, sich freiwillig zu melden.
Wir Jüngeren aber stürmten weiterhin auf den Schulausflügen munter den Bismarckturm, und ich war mit meiner Ernemann sozusagen als Fotoreporter dabei, um nach gewonnener oder verlorener Schlacht die Helden zu Gruppenaufnahmen zu postieren. Je mehr Jungen ich auf die
Platte bekam, um so lukrativer war das Geschäft. Die Fotos fanden reißenden Absatz, auch wenn die Köpfe nicht viel größer als Schrotkugeln waren. Erstaunlich dabei war, daß ich zu einer Zeit, in der es kaum noch einen Hosenknopf zu kaufen gab, niemals Mühe hatte, mir Platten und Chemikalien zu besorgen. In der Weißgerberstraße gab es ein kleines Spezialgeschäft, das über unerschöpfliche Vorräte zu verfügen schien. In meiner winzigen Kammer entwickelte ich hinter dem verhängten Fenster im Schein einer kleinen Petroleumfunzel mit einem Zylinder aus Rubinglas die Aufnahmen und war dann noch tagelang voll beschäftigt, Blatt für Blatt in den Kopierrahmen zu legen, zwei Minuten lang ins Sonnenlicht zu halten, zu fixieren, zu wässern und zu trocknen. Mit dem Preis von zwanzig Pfennig pro Bild machte ich ein Geschäft, das mir hundert Prozent Gewinn brachte. Da es sonst nichts zu kaufen gab, legte ich das gewonnene Kapital in Foto-Artikeln an, einer Vorsatzlinse, die den Bildwinkel erweiterte, und einem leichten Metallstativ, denn das hölzerne hatte das Gewicht eines mittleren Baumstamms.
Die neue Leidenschaft für Theater und Kintopp, die Entdeckungsfahrten mit dem Fernglas über den Himmel und schließlich die Fotografie nahmen mich so in Anspruch, daß die Leistungen in der Schule einen bedrohlichen Tiefstand erreichten. Ein >Mangelhaft< in Latein und ein »Ungenügend* in Mathematik führten im vorletzten Quartalszeugnis zu der peinlichen Fußnote: »Wenn sich seine Leistungen in diesen Fächern nicht bessern, ist die Versetzung gefährdet.« - Nun, Latein war eine Sache, die sich durch strammes Büffeln leicht bewältigen ließ. Anders w ar es mit der Mathematik, für die mein Kopf vernagelt war und vernagelt blieb. Daß ich es dieses Mal zum ersten und einzigen >Gut< in einem Versetzungszeugnis brachte, hatte einen besonderen Grund. Unser Mathematiklehrer, der vor Verdun schwer verwundet worden war, mußte sich einer neuerlichen Operation unterziehen. An seiner Stelle übernahm ein junger Studienrat, Dr. Egon Metzger, den Unterricht, ein blonder, gutaussehender Schwabe, der nach Ostpreußen verschlagen worden war und irgendein Leiden gehabt haben muß, das ihn vor dem Einrücken zur Truppe bewahrte. Nicht nur, daß er in sportlich eleganten Anzügen stets wie aus dem Ei gepellt vor der Klasse erschien und am linken Handgelenk ein goldenes Armband trug, er war auch ein ausgezeichneter Sportler und der erste Mensch, den wir auf Skiern - damals sagte man Schneeschuhe dazu - die Hänge des Galtgarben in unnachahmlich eleganten Telemarkschwüngen herabgleiten sahen. Klar, daß diese neue Sportart auch einige von uns begeistert hätte, wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, sich Schneeschuhe zu beschaffen. Die Skier, die ich mir in der Werkstatt von Tischlermeister Piontek aus zollstarken Buchenbrettern selber zurechtzuschnitzeln versuchte, erwiesen sich als völlig untauglich, genauso wie die Bindung aus Tapeziergurten, da Lederriemen nirgends aufzutreiben waren. Wenn also auch das richtige Material fehlte, so fiel mein sportlicher Eifer und Ehrgeiz Herrn Dr. Metzger doch angenehm auf, ebenso wie der Eifer meines Banknachbarn und Freundes Alfred Kleiber, dessen Begabung für Mathematik genauso gering entwickelt war wie die meine. Als wir ihm eines Tages eine völlig verbogene Klassenarbeit ablieferten, stand, als er uns die Hefte anderntags zurückgab, unter der Arbeit nicht die erwartete Fünf - er gab uns die Hefte unzensiert zurück. Aber nach dem Pausenläuten winkte er uns beide zu sich heran: »Was ihr zwei Buben da geliefert habt«, sagte er in
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