Abschied und Wiedersehen
Silberbesteck nahm sie in ihrer Handtasche mit.
Natürlich kannte ich die Ostseeküste zwischen Rossitten und Brüsterort recht gut, aber sie war mir durch Vaters Gewaltmärsche mit dem verdammten Passometer verleidet worden. Nun war zu hoffen, daß Gewichtsverlust und Kräfteschwund bewirken würden, was in früheren Jahren nur der inbrünstig herbeigesehnte, aber nie erfolgte Beinbruch geschafft hätte, daß auch wir tun würden, was andere weniger bewegungsfreudige Väter seit je getan hatten, nämlich nichts zu tun, zu baden, zu faulenzen und sich im Strandkorb von der Sonne braten zu lassen. Ich hätte mir denken können, daß Vater keinen Strandkorb mietete. Er warf doch sein Geld nicht für etwas hinaus, wenn man es anders billiger und besser haben konnte. Er ließ mich eine Riesenburg schaufeln, in der er windgeschützt vom frühen Morgen bis zum Abend schmorte. Außerdem aber verzichtete er auch auf den Strandkorb, weil Mutter sehr wenig Gelegenheit fand, das Strandleben zu genießen. Die arme Mutter, im letzten Jahr schon zum Schatten ihrer selbst abgemagert, war am Ende des Urlaubs auch am Ende ihrer körperlichen und seelischen Kräfte. Daheim hatte sie die praktisch eingerichtete Küche mit Herd, Gaskocher, Bratrohr, Spüle und einem reichen Bestand an Töpfen und Geschirr. Hier mußte sie in einer winzigen Küche, in der der Wasserhahn bisweilen nur spärlich tröpfelte, auf einem Spirituskocher die Riesenportionen zubereiten, die Vater und ich in uns hineinschlangen, denn auch ich war inzwischen ins Freßalter geraten und konnte zum Frühstück ein halbes klitschiges Dreipfundbrot mit Kunsthonig oder Marmelade spielend verdrücken. Dr. Landmann aber hatte Mutter keinen schlechten Rat gegeben, es war das reine Löffelwunder, das uns widerfuhr. In der Gegend zwischen Laptau und Dudau nämlich heiratete die Tochter eines Bauern den in Schaaksvitte stationierten Gendarmen. Sie brachte eine hübsche Aussteuer an Möbeln und Wäsche mit, nur das Besteck fehlte noch. Da kam Mutter mit dem vierundzwanzigteiligen Erbstück von Tante Rhode gerade recht. Die Brautmutter erkundigte sich bei einem Königsberger Juwelier genau, was solch ein Besteck in gutem Geld gekostet habe, und belieferte Mutter fast ein Jahr lang mit dem genauen Gegenwert in Naturalien, Eiern, Butter, Mehl, Milch, Schweinefleisch und Räucherspeck. Von dem kostbaren Erbe behielt Mutter nur den schweren Schöpflöffel und das Tranchierbesteck zurück - für kommende Notzeiten. Und diese Notzeiten kamen, wenn auch erst dreißig Jahre später. Auf dem Schiff, das sie und den dreiundachtzigjährigen Vater nach der strapaziösen Flucht über die Frische Nehrung endlich von Danzig, durch Minen und russische U-Boote bedroht, nach langer Fahrt nach Lübeck brachte, herrschte solche Hungersnot, daß der alte Mann zu delirieren begann. Und Mutter versuchte den silbernen Suppenlöffel wenigstens für ein Stück Brot einzutauschen. Ein Heizer erbarmte sich ihrer schließlich und drückte ihr einen Knust Schwarzbrot in die Hand, den Suppenlöffel aber gestattete er ihr großzügig irgendwohin zu stecken. Er sagte es überdeutlich, aber Mutter hatte das Damenhafte in Königsberg zurückgelassen oder auf der Flucht verloren, stammelte einen tränenfeuchten Dank und tunkte das steinharte Brot in Wasser, um es Vater in den Mund zu stopfen.
In Kranz lebten wir dank des Löffelwunders herrlich und in Freuden. Fische aus der See und aus dem Haff gab es in den Kranzer Läden auch ohne Marken zu kaufen oder direkt von den Fischern in Saarkau und Kranzbeek, von wo Mutter zuweilen sogar noch warme, fetttriefende Räucherflundern heimbrachte. Vater erholte sich zusehends, für meinen Geschmack fast allzu schnell. Die Bäder und die gute Meeresluft steigerten seinen Appetit ungemein. Als guter Futterverwerter nahm er rasch an Gewicht zu, und mit der Gewichtszunahme stellte sich auch sein Bewegungsdrang wieder ein. Aber als er Mutter zu Märschen nach Rossitten und Neukuhren ermuntern wollte, biß er bei ihr auf Granit. Nein, wenn sie hier schon unter primitiven Bedingungen wirtschaften und für drei Mahlzeiten am Tag sorgen mußte, dann wollte sie wenigstens am Nachmittag für ein paar Stunden Ruhe haben, baden und sich am Strand sonnen. Denn seit wir in Kranz lebten und zur Nacht in die von der Seeluft klammfeuchten Betten krochen, spürte sie es im Kreuz und in den Gliedern. Ich selber vermied es tagsüber nach Möglichkeit, mich in Vaters Nähe aufzuhalten. Ich
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