Abschied und Wiedersehen
Fingernägeln knabberte und es fertigbrachte, sie bis zu den Möndchen abzukauen. Seinem Vater, dessen weißer Mercedes mit Außenkupplung zuweilen vor dem Hotel >Bartensteiner Hof< stand, gehörten zwischen Bartenstein und Rastenburg nicht weniger als sechzigtausend Morgen Land. Den Grund zum Bau der Eisenbahnstrecke hatte der Graf seinerzeit abgetreten, ohne eine Entschädigung zu beanspruchen. Dafür aber mußte jeder Zug im Bereich Eulenburgschen Bodens halten, sobald ein Diener an der Strecke mit einer Fahne das Signal gab, daß der Graf den Zug zu benutzen wünsche. Das imponierte mir mächtig und ließ in mir - wohl zum ersten Mal im Leben - ein Gefühl aufsteigen, in der Wahl meiner Eltern ein wenig danebengegriffen zu haben. Später verflüchtigte sich dieses Gefühl allerdings rasch, als ich erfuhr, daß mein Klassenkamerad Mortimer im Schloß zu Prassen von frühester Kindheit an ziemlich scharf herangenommen worden war und auch an den Ferien keine ungetrübte Freude hatte, denn daheim warteten ein Hauslehrer und eine Gouvernante auf ihn, um sein Englisch und Französisch auf Hochglanz zu bringen. Die Revolution hatte nichts daran geändert, daß die Zukunft eines Eulenburg nur die militärische oder diplomatische Karriere sein konnte.
Als unsere Klasse einmal bei einem Schulausflug in die Nähe des Schlosses kam, wurden wir zu einem Imbiß eingeladen. Das gräfliche Schloß hatte ich mir, von den Dimensionen des Königsberger Schlosses verwöhnt, etwas größer vorgestellt, aber es war nur eine kurze Enttäuschung, denn der >kleine Imbiß< übertraf die kühnsten Erwartungen. Im Freien unter schattigen Bäumen war eine lange Tafel aufgestellt, und zwei livrierte Diener trugen mächtige Platten mit delikat belegten Broten, einen Berg in handliche Portionen zerlegten Geflügels und große Kannen mit Limonade herbei. Es war ein heißer Sommertag, und wir fielen nach der kurzen, freundlichen Begrüßung durch Mortimers junge und schöne Mutter, die das Haar wie die Kronprinzessin Cäcilie trug, mit ungeheurem Hunger über die Platten her. Es muß unserem Ausflugsleiter, Studienrat Kuhn, einem sehr gepflegten Mann mit vorbildlichen Manieren und einer selbst in der Erregung gewählten Ausdrucksweise, scheußlich peinlich gewesen sein, uns zu beobachten; denn während wir die Schüsseln leerfegten, lustwandelte er an der Seite der Gräfin in einiger Entfernung in artiger Unterhaltung begriffen auf und ab. Und dann war es der Dettki, der das Ansehen und die Ehre der Klasse rettete. Denn als der dicke Bronsert nach dem allerletzten Käsebrot griff, schnappte Dettki sich eine Gabel und nagelte mit ihr Bronserts Hand, die sich schon gierig um das Käsebrot krallte, mitsamt dem Brot auf der Platte fest. »Du kannibalisches Schwein!« zischte er, »hast du denn überhaupt keinen Benimm?! Das letzte Brot bleibt liegen, verstanden! Das gehört sich so!« -Und so blieb durch Dettkis Eingreifen das Anstandsbrot auf der Platte liegen. Es sah nicht gerade appetitlich aus, denn Bronsert hatte ziemlich viel Blut verloren. Mortimer zu Eulenburg war übrigens nicht bei uns. Studienrat Kuhn hatte ihm gestattet, derweil >dem Herrn Papa seine Aufwartung zu machen«. Bei diesem war er nämlich in höchste Ungnade gefallen. Da war am Ende der letzten Sommerferien etwas Schreckliches passiert. Mortimer hatte zum Geburtstag seine erste Jagdflinte bekommen und damit, allen waidmännischen Ehrbegriffen Hohn sprechend, einen Storch geschossen. Dazu hatte er noch behauptet, er sei des Glaubens gewesen, auf einen Reiher angelegt zu haben. Nun, wenn das schon dem Sohn eines stinknormalen bürgerlichen Jägers ein paar saftige Ohrfeigen eingetragen hätte, wie mußte da erst ein blaublütiger Graf auf solch eine Todsünde reagieren! Eben wie ein Graf. Ohne körperliche Züchtigung, aber durch Einschließen der Flinte auf die Dauer von zwei Jahren, Verkürzung des Taschengeldes auf die Hälfte und Anweisung an das Forstpersonal, den Übeltäter wie einen Aussätzigen zu behandeln. Das war natürlich hart, viel härter als ein Tritt in den Hintern, und es führte dazu, daß das nervöse Nägelkauen des jungen Grafen Ausmaße annahm, die Studienrat Westphal veranlaßten, Eulenburg während seiner Französisch-Stunde eindringlich zu bitten, das Frühstück zu beenden, wenn er die Finger bis zu den Knöcheln abgenagt habe...
Auch Studienrat Westphal war ein Mann von feinsten Manieren. Wir nannten ihn >Dittchengent<, weil er stets helle
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