Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
Vom Netzwerk:
Lehrkörper, der sich auf einer niedrigen Empore auf zwei Stuhlreihen um das Katheder gruppiert hatte, drückte seinen Stuhl ans Gesäß und wanderte mit eingeknickten Knien vom Fenster weg zum Katheder hin. Es sah ziemlich komisch aus, und zweihundert Jungen trompeteten in ihre Taschentücher, bis Direktor Kröhnert zürnend den Kopf reckte, den Kneifer auf die Nase hieb und einen scharfen Blick in die Runde warf. Sein Bart reichte bis zum untersten Westenknopf, ein dünner, blonder Bart, den er häufig mit einer sanften Bewegung durch die Hand zog. Die Andacht hielt Professor Hundsdörfer. Er ließ den Harmoniumspieler den ersten Vers von »Befiehl du deine Wege« intonieren und gab das Zeichen zum Einsatz. Hinten bewegten die Herren Primaner die Lippen und brummten ein bißchen mit, die Kleinen auf den vorderen Bänken sangen laut und eifrig, denn Herr Schott, der Gesangslehrer, beobachtete sie argwöhnisch. Er war vor dem Kriege Hauptlehrer an der Dorfschule von Groß-Golupken im Landkreis Lyck gewesen, durch den Krieg nach Bartenstein verschlagen worden, hatte am Gymnasium einen neuen Wirkungskreis als Vorschullehrer gefunden und gab, da er von der Präparandenanstalt her ein wenig die Violine zu kratzen verstand, auch in den unteren Klassen des Gymnasiums Gesangsunterricht. Niemand nahm ihn ernst, wenn er notorischen Nichtsängern oder Ruhestörern >Steine in die Schülerlaufbahn zu schmeißen< versprach. Und das wurmte ihn.
    Auf meine Frage nach dem Eigens flüsterte mir jemand zu, daß es der Lange, Dünne mit dem schwarzen Bart sei, der in der ersten Reihe als vierter von links säße. Er überragte seine Kollegen um einen halben Kopf im Sitzen, und um einen ganzen, als er sich beim Schlußgebet erhob. Ein unendlich langer, dürrer Mann mit überlangen Armen, nervös zuckenden Händen, einem bleichen Asketengesicht und düster glühnenden Augen unter buschigen, pechschwarzen Brauen. Eine Gestalt, die sich aus einem Gemälde El Grecos in diese kalte Aula verirrt hatte. - Nach der Andacht durften wir wieder in unsere Klassenzimmer marschieren. Dort nahmen wir unsere für das Allgemeinwohl raffiniert ausgetüftelten Plätze ein. Die Frage war jetzt nur, ob der Eigens unsere eigenmächtige Sitzverteilung über die drei Bankreihen dulden oder ob er sie umschmeißen würde. Der lange Messling, der es in Latein und Mathematik bitter nötig hatte, zwischen guten Neben- und Vordermännern zu sitzen, gab die Parole aus, dem Eigens durch anständiges Benehmen - wenigstens in den ersten Tagen - den Wind aus den Segeln zu nehmen und ihm auch nicht den geringsten Anlaß zu geben, etwas an der Sitzordnung zu ändern. - »Also, Schnauze halten, Jungs!« schloß er seine kurze Ansprache, »Schnauze halten, auch wenn es noch so schwerfällt!« - Paul Krause, ein kleines, aber blitzgescheites Bürschchen, mit einem straff an den Schädel gebürsteten weißblonden Scheitel, überwachte durch einen Türspalt den Korridor, gab uns das Zeichen, daß der Eigens im Anmarsch sei, und flitzte auf seinen Platz zurück. Wir saßen so brav und mucksmäuschenstill auf unseren Bänken, daß der Eigens wahrhaftig zögerte, die Türklinke niederzudrücken, und uns, als er dann schwarz und lang in die Klasse trat, aus seiner Höhe von einem Meter neunzig herab fast ein wenig ängstlich musterte, so als erwarte er eine besondere Teufelei. Wir sprangen auf, die Klappsitze knallten wie ein gut geübter Präsentiergriff in ihre Halterungen, und schmetterten dem Eigens einen ehrerbietigen >Guten Morgen, Herr Professor!» entgegen. Er ließ den düsteren Blick mißtrauisch über unsere Gesichter wandern. So viel Wohlerzogenheit und Disziplin hatte er nicht erwartet. Er nickte uns mit eingezogenem Hals einen Gruß zu, stakte zum Katheder und drückte uns mit einer Handbewegung auf die Sitze zurück.
    »Guten Morgen, Buben... Ich kenne euch noch nicht... bis auf zwei...« Sein Blick richtete sich auf Wermke und Dettki, die kleben geblieben waren und die Klasse wiederholen mußten. Die Unmutsfalten auf seiner Stirn ließen darauf schließen, daß ihn mit den beiden keine angenehmen Erinnerungen verbanden. »Wer ist hier der Primus?« Der bebrillte Röder, das Gesicht voller Pickel und im Nacken ein bepflastertes Schmalz-Stullen-Furunkel, sprang auf und krähte seinen Namen. Der Eigens beauftragte ihn, bis zur nächsten Stunde unsere Namen aufzuschreiben, von vorn rechts beginnend - nach der Sitzordnung. Ein leises Aufatmen ging durch die Klasse. Dann

Weitere Kostenlose Bücher