Abschied und Wiedersehen
diktierte er noch den Stundenplan für das neue Schuljahr, und damit waren wir für heute entlassen. Der Eigens erhob sich hinter dem Katheder und stelzte mit einem Ausdruck zur Tür, als könne er es noch immer nicht fassen, daß es vierundzwanzig >Buben< von unserer milden Sorte auf Erden geben könne.
»Was habt ihr eigentlich gegen den Eigens?« fragte ich, »der Mann ist doch ganz vernünftig...«
»Na, dann frage einmal den Dettki oder den Wermke, wie vernünftig der ist. Aber laß man, das kriegst du bald von selber spitz.«
Es gab Leute, die vom ostpreußischen Jahresablauf zu behaupten wagten, es gebe hier neun Monate Winter und drei Monate keinen Sommer. Eine böswillige Verleumdung! Aber dieser erste Winter in Bartenstein zog sich bis in den Mai hinein, zeigte sich von der grimmigsten Seite, und unser Kalfaktor Bradzio hatte von früh bis spät zu tun, um die Öfen mit Torf zu füttern. Die Kacheln strahlten nicht genug Wärme aus, um die großen Räume erträglich aufzuheizen. Nur in Großmutters kleinem Zimmer auf der anderen Seite des Korridors wurde es gemütlich warm; dort machte ich meine Schularbeiten, und dort hielt sich auch Mutter zumeist auf und ließ ihre Strickdecken auf der Rundnadel zu langen Schläuchen wachsen. Großmutter, seit dem Tod ihres Heinrich in ihrer kleinen Lycker Wohnung vereinsamt und vergrämt, blühte bei uns sichtlich auf. Sie entdeckte Bekannte, die der Krieg aus Lyck und aus der Lycker Umgebung nach Bartenstein verschlagen hatte, sie machte sich im Hause nützlich und war glücklich, nicht mehr vor lauter Langeweile vom Morgen bis zum Abend Patiencen legen zu müssen. Ganz anders Mutter. Zwar jammerte sie nicht und machte Vater auch keine Vorwürfe, sie in ein Nest verschleppt zu haben, in dem sie sich wie in der Verbannung fühlte; von jeher ein bißchen zu Theatralik neigend, trug sie den Kopf besonders hoch, schluckte ihr Leid tapfer herunter und spielte in Miene und Haltung die vornehme Schicksalsergebenheit Maria Stuarts kurz vor der Hinrichtung - besonders, wenn sie während des Publikumsverkehrs aufs Klo gehen mußte. Das war nun wirklich keine angenehme Sache. Zwar war eines der beiden Klos für uns reserviert worden, ein kleines Schild verkündete, daß es »privat« sei, und wir besaßen den Schlüssel dazu, der immer an der Küchentür hing. Aber es war, besonders für Mutter, doch recht peinlich, alles mitanhören und zum Teil auch mitriechen zu müssen, was sich, nur durch eine dünne Bretterwand getrennt, jenseits dieser Bretterwand abspielte. Und in der Nacht war es wirklich zum Fürchten, wenn man sich mit einer flackernden Kerze in der Hand durch den endlosen, hallenden Flur mit seinen tiefen finsteren Türnischen auf den Weg zum Örtchen machen mußte. Gegen Nachttöpfe war Vater allergisch, so was gab es bei uns nicht. Ich will gestehen, daß ich mehr als einmal aus dem Fenster meiner Bude in den Vorgarten gepinkelt habe, denn auch mir schlotterten die Knie, wenn ich nachts den unheimlichen Gang antreten mußte. Ja, Mutter fühlte sich in Bartenstein todunglücklich. Sie vermißte ihre Freundinnen und ihre Kaffeekränzchen, sie vermißte die Opernaufführungen im Stadttheater, die Konditorei von Plouda am Altstädtischen Markt, den Tiergarten, wo im Gesellschaftshaus zur Winterzeit >Tiroler< mit Schwänken und Schuhplattlern gastierten, und sie vermißte auch die Kinos, die sich aus primitiven Anfängen inzwischen zu richtigen Theatern mit Parkett und Logen und komfortabler Aufmachung gemausert hatten. Zwar gab es in Bartenstein auch ein Kino, sogar in unserer nächsten Nähe in der Heilsberger Straße, aber es ähnelte noch jenen Flimmerschuppen, in denen ich mit Kurt Gronwald die Filme von hinten genossen hatte. - Aber auch Vater sah nicht gerade glücklich und zufrieden aus. Seine Erwartungen, aus dem leergefressenen Königsberg hier ins Schlaraffenland zu kommen, wurden bitter enttäuscht. Wenn auch der fette Boden der Umgebung Weizen und Korn üppig gedeihen ließ, wenn auch die Kühe bis zum Bauch im Futter standen und die Schweine in den Mästereien dicken Speck ansetzten - wir bekamen von diesem Segen nichts zu spüren. Nicht einmal in dem kleinen Laden des Landwirtschaftlichen Hausfrauen-Vereins an der Ecke Rastenburger Straße und Anger, den die Güter der Umgebung mit markenfreien Erzeugnissen belieferten, gab es außer Kartoffeln, Mohrrüben, verschrumpelten Lageräpfeln und Saatkrähen etwas wirklich Nahrhaftes zu kaufen. Die Saatkrähen
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