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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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brachte. Unter den Schützenbrüdern, die aus der ganzen Provinz herbeiströmten, befand sich auch der Gastwirt Grigoleit aus Schippenbeil, ein Vierzentnermann. Das heißt, wenn sie ihn in Schippenbeil ins Zugabteil schoben, wog er ein paar Kilo darunter, und drei schiebenden und zwei ziehenden kräftigen Männern gelang es stets, ihn durch die enge Tür ins Abteil zu zerren. Aber wenn er dann vollgesoffen und vollgestopft in der Nacht die Heimfahrt antrat, mußte ein Viehwaggon angehängt werden, und sechs Männer hatten ihre liebe Not, den Dicken über eine Laderampe in den Waggon zu verfrachten. Ich hatte Vater überredet, sich den Festzug und den Dicken, der an der Spitze schnaufend mitmarschierte, anzusehen. Aber Vater schniefte nur verächtlich durch die Nase: »Und wegen dieser halben Portion läßt du mich hier herumstehen und Maulaffen feilhalten! Da hättest du einmal den Gastwirt Fromm aus Hohenstein erleben müssen. Das war ein Mann! Der wog sechs Zentner zwanzig und mußte den Bauch in Riemen über den Hals tragen, weil er ihm sonst über die Knie gerutscht wäre. Der saß an einem speziell für ihn angefertigten Tisch mit einem kreisrunden Ausschnitt und verputzte zum ersten Frühstück ein ganzes Spanferkel oder eine zwölfpfündige Gans. Und was der in einem Tag in sich hineinschlang, davon hätte eine sechsköpfige Familie einen Monat lang leben können. - Und als dann die Weltausstellung in Chikago stattfand, da hatten sie dort für den schwersten Mann der Welt einen Preis von 10 000 Dollar ausgesetzt. Wir alle haben dem Fromm wie einem kranken Pferd zugeredet, nach Chikago zu fahren und sich die zehntausend Dollar zu holen. Aber er meinte, um da konkurrieren zu können, müßte er noch mindestens einen halben Zentner raufpacken. Er gab sich auch alle Mühe, aber er brachte es nur auf sechs Zentner vierzig. Und dann kam die Nachricht, daß sich die 10 000 Dollar ein Männchen von Fünfzentnerachtzig geholt hatte. Das hat den Fromm so gewurmt, daß er sich erschießen wollte. So ein Filigranbürschchen - murmelte er immer wieder. Wahrhaftig, wir mußten sein Jagdgewehr wegschließen. Aber es nützte nichts, er grämte sich über die entgangenen 10 000 Dollar so, daß er ein halbes Jahr später starb. Es war furchtbar, den Mann zusammenrutschen zu sehen. Gerade, daß er noch fünf Zentner in den Sarg brachte.« Wie gesagt, das Schützenfest war ein Lichtblick. Aber sonst? Da gab der Männergesangverein im Jahr einen Liederabend und als Höhepunkt im achtstimmigen Chor Eichendorffs >Auszug der Prager Studenten<. Nun weht schon durch die Felder der kalte Boreas...
    Der Verein der Kaufmannsgehilfen brachte sogar den >Vetter aus Dingsda< auf die Bühne. Den Vetter spielte der junge Mann von Kaufmann Thiel, bei dem ich bis zu einer Mark - in gutem Geld natürlich - Zigarettenkredit hatte. Und einmal kam sogar eine richtige Theatertruppe, bei der ein Dutzend Pennäler als Statisten mitmachen und Rhabarber murmeln durften. Sie spielten Kolberg, und der deutschnationale Parteisekretär Christofczyk klatschte begeistert Beifall, dem; wenn anno achtzehn alle so durchgehalten hätten wie der alte Nettelbeck! Aber das rote Gesindel in Kiel und Berlin...
    Nein, allzuviel Abwechslung und Anregung gab es wahrhaftig nicht. Nicht einmal die Tatsache, daß der Dachstuhl unserer Penne eines Tages in Flammen aufging und daß Direktor Mollenhauer dem Kollegen Kröhnert sein Mädchenlyceum zum Unterricht zur Verfügung stellte, vermochte mich sonderlich zu trösten. Die Klassenzimmer im Lycealbau rochen ein bißchen anders als unsere, aber wer sich da durch Zettelbotschaften in den Tintenfässern und unter den Klappsitzen Abenteuer erhofft hatte, erlebte nur herbe Enttäuschungen.
    Nachdem sich der Feuerkopf Grzybowski auf Gymnasialwanderschaft begeben hatte, da er bei der Zulassung zum Abitur über die alten Sprachen gestolpert war, schlief der von ihm gegründete Bund nationaler Gymnasiasten allmählich ein; er behielt noch eine Weile seine alte Firmierung, entfernte sich aber stark von seinen ursprünglichen Zielen. Schon von seinem Gründer nach streng studentischem Komment geführt, entwickelte er sich unter den wechselnden Nachfolgern zu einem kleinen Saufverein mit dem hehren Ziel, deutsche Jünglinge zu jener Trinkfestigkeit zu erziehen, die nächst dem Bekenntnis zu Ehre, Treue und Vaterland im Katalog der Mannestugenden durchaus nicht an letzter Stelle stand. Da der Besuch von Lokalen ganz allgemein verboten war,

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