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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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nur als Zeuge, ließ ihm keine Ruhe. Er hatte sich immer für zu nüchtern gehalten, um so etwas wie eine fixe Idee zu entwickeln. Vielleicht war das eine, aber da er solche bizarren Gedanken nicht gewohnt war, war es ihm nicht aufgefallen. Denn es war Quatsch. Sie hätte sonst wer sein können. Er kannte sie überhaupt nicht.
      Draußen schaltete er den Defroster des Geländewagens ein, spähte die Main Street entlang zum seichten Ende des Sees, dem alten Bahnhof, der sich in einen Fahrradladen verwandelt hatte, zur Chautauqua Belle, an ihrem Landeplatz, wo sie das Ende des Regens abwartete. Er fragte sich, wie es wohl wäre, hier zu leben. Ruhig. Kalt im Winter und schön bei Schnee. Sie konnten ihre Ersparnisse in einen dieser Kästen mit zehn Zimmern, riesigem Gasofen und drei Treppen stecken. Er sah vor sich, wie er im Haus ein Fotostudio betrieb und förmliche Porträts von Familien machte, die in ihrem Sonntagsstaat vor ihm posierten. Mit der Zeit würde er sich etablieren, sich einen Namen machen, in den Gelben Seiten annoncieren. Er würde in seinem Arbeitszimmer Buch führen, am Computer sein Budget aufstellen, während draußen die Blätter durch die Luft wirbelten und herabflatterten. Und die ganze Zeit würde er insgeheim die Hinweise in Tracy Anns Fall zusammenfügen, mit Leuten sprechen, die sie kannte, Dokumente fotokopieren, eine Schublade mit Aktenmappen füllen.
      «Du bist wirklich krank», sagte er und wischte die Scheibe sauber, damit er beim Ausparken etwas sehen konnte.
      Hinter dem Golden Dawn waren die Straßen menschenleer. Vor einem schäbigen zweistöckigen Backsteingebäude stand ein geblümtes Sofa am Bordstein, und obendrauf, mit dem Bildschirm nach unten, lag eine große Fernsehtruhe. Die Wohnung hatte wahrscheinlich oben gelegen, über dem Spirituosenladen.
      Er konnte sich nicht vorstellen, wer dort wohnte. Jemand wie Tracy Ann Caler. Solche Städte würden ihm immer ein Rätsel bleiben - jedem Außenstehenden. Seine Vorstellungen vom Leben in einer Kleinstadt waren vermutlich falsch und stammten aus Jimmy Stewart-Filmen oder den Folgen von Twilight Zone. Drüben in Jamestown gab es diesen Typen, der alle Jugendlichen mit AIDS infizierte. Die Einheimischen sagten, er sei ein Außenseiter, aber das erklärte nicht, warum ihre Kinder die Partner tauschten wie auf einem Tanzabend, ein paar von ihnen waren in Ellas Alter. Im Vergleich dazu war ihr Viertel in Cambridge geradezu ungefährlich.
      Er schaute auf die Uhr im Armaturenbrett und überprüfte, wie viel Zeit er beim Gas-n-Go verbringen konnte, ihm blieben fünf zusätzliche Minuten, die er vorher abgeknapst hatte. Sein Plan war einfach. Während er mit der anderen Hand die Kanister füllte - ohne hinzuschauen -, würde er die Fassade, die Zapfsäulen und alles fotografieren, was er mit der Holga aufs Bild kriegte. Wenn er reinging, um zu bezahlen, würde er nach hinten gehen und sich bücken, als griffe er nach einer Coca-Cola, und mit den Gängen, dem Kaffeestand und dem Kartenständer dasselbe tun. Wenn sich die Gelegenheit bot, würde er versuchen, den Tresen und die Kasse zu fotografieren, genau nach Morgans Anweisung, einfach draufhalten. Das Vorgefühl des Arbeitens putschte ihn auf, ein Sportler, der auf den Beginn eines Spiels wartete.
      Vorn leuchtete das Gas-n-Go, das gelbe Schild strahlte im Regen. Er wollte zur Außenseite der inneren Zapfsäulen fahren, damit er aus der Deckung fotografieren konnte, und es sah gut aus, abgesehen davon, dass zwischen ihm und dem Eingang ein schwarzer Chevy stand. Ken bog ab und fuhr so weit nach vorn wie möglich. Bevor er hinten entriegelte, fasste er wie ein Gangster nach seiner Tasche, um sich zu vergewissern, ob die Holga drinsteckte.
      In dem Chevy saß niemand; der Fahrer war im Laden und bezahlte. Ken stellte die Kanister raus und betrachtete zwischen der Zapfsäule und dem Abfalleimer hindurch die Fassade. Er griff in die Tasche, zog die Holga heraus und stellte sie auf den Beton. Die Versuchung, alles perfekt zu planen - oder noch besser den Sucher vors Auge zu halten -, war kaum auszuhalten. Stattdessen drückte er, ohne etwas zu sehen, mit einem Finger auf den Auslöser, hörte das verräterische Klicken.
      Während er zuhörte, wie das Benzin in den ersten Kanister plätscherte, transportierte er den Film weiter. Eine Frau kam aus der Eingangstür und ging auf den Chevy zu. Er drückte auf den Auslöser, in der Hoffnung, sie mitten im Schritt zu

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