Abschied von Chautauqua
achthundert Kilometern an den Gedanken gewöhnen können, dass er seine Mutter besuchte, doch erst jetzt, wo sie fast da waren, wurde es für ihn wirklich, eine Sache, mit der er fertig werden musste, und obwohl er wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als herzukommen, fühlte er sich betrogen und in die Falle gelockt, und die Vergangenheit hüllte ihn ein wie das schwüle Wetter. Seit der Beerdigung war es das erste Mal, dass sie alle zusammenkamen.
Er hatte keine Zeit, seine Gedanken weiterzuspinnen. Zur Linken glitten wie zur Warnung das Antiquariat vorbei (NEUE HARDCOVER FÜR 2 DOLLAR), die Campingplätze mit ihren aus Sperrholz ausgesägten Yogi-Bär-Figuren, die die Wohnmobile willkommen hießen, und der Willow Run Golf Club, eine Bankrott gegangene Farm, die man in einen Par 3-Platz verwandelt hatte und wo ihm sein Vater nicht nur die richtige Schlagtechnik, sondern auch das Zeremoniell des Spiels beigebracht hatte, bevor Ken auf den Platz in Chautauqua durfte. Hinter der Kurve kauerte die Snug Harbor Lounge, eine örtliche Spelunke mit einem transportablen Schild, auf dem die Band angekündigt wurde, die an diesem Abend spielte, daneben ein funkelnder alter Firebird, der zum Verkauf stand. Und dann brausten sie an der Fischbrutanstalt vorbei, die quadratischen Teiche ordentlich aufgereiht wie die Fächer einer Eiswürfelschale, und aus Gewohnheit wandte er den Blick mehrmals verstohlen von der Straße ab und suchte auf der anderen Seite nach Reihern.
Er dachte, dass er mit der Holga hingehen und die Fische im Pumpenschacht fotografieren würde - dunkle Schatten im Wasser. Die Aussicht, etwas zu tun zu haben, beruhigte ihn, nahm dem Schild zum Manor Drive viel von seinem Schrecken.
«Da sind wir», sagte er und bog ab, wobei er den Geländewagen gewohnheitsmäßig, mit geübten Handbewegungen durch die scharfe Kurve lenkte.
Wie gut er diesen Ort kannte, sogar die Bäume - den knorrigen, verkrümmten Holzapfelbaum im Garten der Nevilles, der nach seiner und Megs Überzeugung in irgendeinem unterirdischen Ort der Finsternis wurzelte; die beiden großen Eichen, die die Straße einklemmten und auf einer Seite den Asphalt aufgewölbt hatten wie einen Teppich. Er kannte jedes Sommerhaus und inzwischen sogar die großen Häuser, wusste, dass jedes die ungezwungenen Stunden der darin wohnenden Familie barg, das beiläufige Verstreichen des feuchten Sommers. Wenn sie wegfuhren, würden diese langen Tage immer noch da sein, würden im Winter unter dem Schnee warten, der See unter seiner Eisdecke wie die im Schlamm kauernden Hechte und Muskellungen, ihr Herzschlag verlangsamt zu einem kaum hörbaren Pochen. All die Kartenspiele bei Gin Tonic und die Hühnchensalat-Sandwiches auf dem Steg würden auf sie warten und die Zweige der Weiden im Wind schaukeln, doch sie würden nicht zurückkehren, und egal, wo sie nächstes Jahr hinfuhren, er würde diesen Ort vermissen, würde ihn immer vermissen.
Er merkte, dass er in Panik geriet, und hielt den Atem an.
«Alles in Ordnung?», fragte Lise.
«Die Wehmut hat mich ganz plötzlich überwältigt.»
«Meinst du, das hat vielleicht was mit deinem Vater zu tun?»
«Vielleicht. Keine Ahnung.»
Wieder merkte er, dass Ella und Sam ihnen zuhörten. Auf einer langen Autofahrt erfuhren die beiden mehr über ihre Eltern als das ganze Jahr zu Hause.
Da war das Haus, versteckt hinter der großen Kastanie, da der Briefkasten mit den Taglilien seiner Mutter. Sie waren mit Arlenes Wagen gekommen. Er fuhr den Geländewagen an die Seite, unter die Kastanie, damit sie beide aussteigen konnten. Die Zweige scharrten am Wagendach.
«Die Fahrräder!», rief Lise, er trat auf die Bremse, würgte den Motor ab, und feste Kastanienkapseln prallten aufs Dach.
«Verdammt nochmal», sagte er, denn er war den ganzen Tag vorsichtig gewesen, hatte abgeschätzt, wie hoch die Fahrräder waren, und beim Geldautomaten und an den Tankstellen überprüft, wie viel Spielraum sie hatten.
Lise öffnete ihre Tür und stellte sich aufs Trittbrett.
«Wie sieht's aus?»
«Ich glaube, wenn du zurücksetzt, ist alles in Ordnung.»
Dröhnend startete er den Motor.
«Warte, bis ich eingestiegen bin», sagte sie.
Er spürte, wie er vor Wut die Zähne zusammenbiss, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Das war genau das, was er nicht ausstehen konnte. Er hatte die Fahrräder gar nicht mitnehmen wollen. Die Kinder fuhren doch
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