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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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schlechter in Erinnerung, als es in Wirklichkeit war. Was meinst du, hat er mich gemocht? Ihr habt doch bestimmt darüber gesprochen.»
      Das meint sie nicht ernst, war Arlenes erster Gedanke. Sie hatte es gesagt, ohne groß nachzudenken, doch da stand sie und wartete auf eine Antwort. Es war, als würde man überfallen, mit vorgehaltener Pistole zum Reden gezwungen. Arlene dachte, dass sie das Vertrauen, das Henry ihr entgegengebracht hatte, nicht brechen durfte.
      «Er hat mich nicht gemocht», wiederholte Margaret überzeugt, als Antwort auf ihre eigene Frage. «Ist schon okay, du brauchst nichts zu sagen.»
      Arlene fand es ungerecht, dass sie ihr den einzigen Fluchtweg verbaut hatte.
      «Er hat gesagt, du wärst selbstbewusst.» Arlene merkte, dass sie in ihrem Drang, die Wahrheit zu sagen (und Margaret zum Schweigen zu bringen), zu laut gesprochen hatte. «In unserer Familie war das ein Kompliment. Es gefiel ihm nicht, aber er respektierte es. Du hast ihm sehr viel bedeutet.»
      Das war alles, was sie aufrichtig dazu sagen konnte. Hoffentlich würde es ausreichen.
      «Ich hab ihn auch nicht gemocht.» Margaret lachte, doch es klang bloß wie ein Räuspern im Dunkeln.
      Das überraschende Geständnis machte Arlene wütend, als wäre sie all die Jahre getäuscht worden.
      «Das meinst du nicht ernst.»
      «Ich weiß, alle anderen haben ihn für den nettesten Menschen gehalten. Wir sind einfach nicht miteinander ausgekommen. Ich glaube, irgendwann hat er's nicht mehr versucht, und ich hab ihm wohl übel genommen, dass er mich einfach abgeschrieben hat. Ich weiß, dass ich's ihm nicht leicht gemacht hab, aber ...»
      Arlene musste sich beherrschen, um sie nicht durchzuschütteln, das undankbare kleine Ding. Zeig Mitgefühl, hätte sie am liebsten gesagt.
      Vielleicht war das für Margaret die Wahrheit, vielleicht war das ihr Geständnis, das, was sie ihm gesagt hätte, wenn sie Zeit dazu gehabt hätte, wenn das Ganze anders gelaufen wäre. Beim Tod ihres Vaters hatte Arlene seine Enttäuschung über sie, seine Bevorzugung Henrys, seine Abneigung gegen Frauen im Allgemeinen vergessen müssen. Niemand hatte ihr gesagt, sie habe ein Recht dazu, und sie hätte sich geschämt, so über ihn zu denken. Vielleicht bat Margaret sie um Verzeihung.
      «Ich hab dich gemocht», sagte Arlene stattdessen. «Ich bin immer für dich eingetreten.»
      «Ich weiß.»
      «Du wärst überrascht, wie viel er von dir gehalten hat. Er hat sich mehr Sorgen um dich gemacht als um Kenneth, und mit Recht. Weißt du noch, wie glücklich er auf deiner Hochzeit war?»
      «Die Sache ist schiefgegangen, oder?»
      «Weißt du noch, was er gesagt hat, was für einen Toast er ausgebracht hat?»
      «Ja.»
      «Glaubst du, das hat er ernst gemeint?»
      «Ja.»
      «Na also», sagte Arlene. «Dann sag nicht, dass er dich abgeschrieben hat. Dass ihr beide nicht miteinander ausgekommen seid, heißt nicht, dass er dich nicht geliebt hat oder du ihn nicht geliebt hast. Er hat gewusst, was du von ihm hältst.»
      Arlene fragte sich, ob das stimmte oder ob es auf ihren eigenen Vater zutraf, ob es ein laut ausgesprochener Wunsch war.
      «Danke », sagte Margaret beherrscht, deshalb spielte es keine Rolle.
      Das Gespräch war zu Ende, doch jetzt war Arlenes Interesse geweckt, und sie hätte am liebsten weitergeredet. Sie war eine gute Tante gewesen, eine gute Schwester, und als sie zur Tür hinaus in den Regen traten (das Licht aus der Küche auf den glitschigen Platten widergespiegelt, das Wasser von den Tropfen gekräuselt) , war sie von sich beeindruckt, war überrascht, wie gut sie ihre Situation darlegen konnte, als hätte sie jahrelang im Stillen darüber nachgedacht.
      Drinnen, in ihrem Zimmer, dachte sie, dass sie das in gewisser Hinsicht auch getan hatte. Und doch erinnerte sie sich jetzt, wo sie allein war und im Nebenzimmer der Film lief, an ihre Überraschung und Wut über Margarets Worte, obwohl sie wusste, dass sie aus tiefstem Herzen kamen und nicht scherzhaft gemeint waren. Ich hab ihn auch nicht gemocht. Arlene dachte über ihre Rolle in Margarets Leben nach, über ihre Jahre als wohlmeinende Vermittlerin. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst, aber nichts gesagt.
      Margaret hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht. Arlene hatte es als die unbekümmerte Verachtung einer Jugendlichen betrachtet, die Meg spätestens mit fünfundzwanzig überwunden hätte. Doch dann kamen das

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