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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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erwischen.
      «Was wohl. Die Taschenuhr deiner Cousine.» Sie sagte es so, als läge es auf der Hand, als hätte sie es satt, dass er sich dumm stellte. Sie schien sich ihrer Sache sicher zu sein, als bräuchte er bloß noch zu gestehen. Egal, was er sagte, sie würde ihm nicht glauben - obwohl sie nicht den geringsten Beweis hatte. Später würde er es bereuen, aber jetzt war er wütend, dass sie ihn bloß wegen Ellas Behauptung anschuldigte. Das machte es leichter, nein zu sagen.
     
     
* 6
     
    Den Kindern zuliebe fuhren sie die Zufahrts-Straße entlang, obwohl die Jungs ihnen schon davon berichtet hatten. Während sie an den adretten weißen Häusern und den gepflegten Rasenflächen vorbeiglitten, zwischen denen der See glitzerte, hatte Ken das seltsame Gefühl, etwas verloren, eine Gelegenheit verpasst zu haben, als würden sie für immer wegfahren und er würde das Mädchen verlassen. Lise hatte gesagt, er solle hinfahren und fotografieren, doch er wusste, es war bloß eine weitere Prüfung, das war ihr noch wichtiger geworden, nicht nur, weil sie hier waren. Sie war sich ihrer und folglich auch seiner unsicher, aber er begriff nicht, wodurch er diesen jüngsten Anfall von Unsicherheit ausgelöst hatte. Zwischen ihnen hatte sich nichts geändert.
      Sie mussten daran vorbeifahren. Es gab nur eine Straße. Vom Highway aus sah er die Autos weit hinter den Teichen und malte sich einen Augenblick das fertige Foto aus, die niedrige Linie der Bäume und der riesige Himmel, die Bedeutungslosigkeit des Menschen (und irgendwo darin der Schatten seines Vaters). Morgan würde aufstöhnen und das Foto umdrehen, als würde es seinen Augen wehtun. Versuch keine Stellungnahmen abzugeben, spür einfach, was da ist. Wie die meisten von Morgans Ratschlägen war das für Ken zu sechziger-Jahre-mäßig, zu groovy, doch das würde er nie sagen, nicht bevor er etwas Brauchbares zustande brachte.
      Meg, die neben ihm saß und den Wagen fuhr, ließ die Szene wortlos vorübergleiten, genauso wie Lise hinter ihm. Ganz hinten reckten die Jungs die Hälse, um etwas sehen zu können, während die Mädchen sie gelangweilt ignorierten, und er fragte sich, ob seine Faszination nicht bloß ein scheinrationales Abbild ihrer Begeisterung war, kindisch und geistlos, im Grunde sensationslüstern.
      Irgendetwas spürte er bei Tracy Ann Caler, er wusste nicht, was - ein Summen, eine Strömung -, aber es war da, egal, ob gut oder schlecht. Noch aufregender war, dass es anscheinend sonst niemand empfand. Er wollte sich einreden, dass seine Faszination zwar rätselhaft, aber aufrichtig und edel war, und sah in der fehlenden Verbindung zwischen ihnen und der Stärke seiner Gefühle eher einen Beweis für diese These als ein Indiz dagegen. Sie gehörte ihm genauso wie ihren Entführern, und er begriff, wie heikel sein Standpunkt war. Er fragte sich, ob es sich ändern würde, wenn man sie fände. Dann muss es sich ändern, dachte er. Sonst war es bloß Sensationsgier, dieselbe Scheiße wie im L?/»-Magazin.
      «Seid ihr bereit für Gravity Hill?», fragte Meg das gesamte Auto.
      Von hinten kam spöttischer, halbherziger Jubel.
      «Ach, lassen wir's dieses Jahr ausfallen», sagte Ken mit unbeweglicher Miene. «Wahrscheinlich sind sie schon zu alt.»
      «Ich will hinfahren», meldete sich Justin.
      «Was ist mit den anderen? Stimmen wir ab.»
      Es erhob sich bloß Stimmengemurmel, obwohl eine echte Abstimmung knapp ausgegangen wäre. Lise war nur dabei, weil sie nicht mit seiner Mutter im Haus bleiben wollte, und Meg kam bloß wegen der Kinder mit. Sam und Justin waren auf seiner Seite, aber das war's auch schon - Jungs gegen Mädchen.
      «Wie viele sind dafür?»
      «Überhaupt nicht witzig, Dad», sagte Ella.
      «Okay», entschied er, «dann fahren wir.»
      Er benutzte die folgende Stille, um aus dem Fenster zu schauen, seine Augen betrachteten und erkundeten alles. Er hatte die Nikon dabei, doch das Licht war zu stark, die Schatten scharf auf den Bäumen, jedes Blatt klar umrissen. Die Straße war so vertraut, dass er außer den Fassaden der Snug Harbor Lounge, den morschen Reklametafeln, dem Golfladen in Willow Run auch die pastellfarbenen Asbesthäuser und ihre schäbigen Garagen sehen konnte, das hohe Unkraut in den Straßengräben braun gefärbt. Es ging auf September zu. Er spürte, wie der Tag ihm entfloh, und hätte am liebsten angehalten, um am Randstreifen entlangzugehen und alles festzuhalten. Dann

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