Abschied von Chautauqua
könnte er der Straße rings um den See folgen, einen Kreis beschreiben; dazu brauchte er bloß Geduld. Er könnte die verschiedenen Jahreszeiten fotografieren, könnte Schlittschuhläufer zeigen, die dort standen, wo immer die Fähre fuhr, die schneebedeckten Grills des Rod and Gun Clubs. Tausende von langweiligen, anspruchslosen Fotos. Jeden Morgen würde er mit seinem Mittagessen und einer Wasserflasche im Rucksack losziehen. Er würde nicht nachdenken, würde einfach drauflos knipsen und die Bilder später bei den Kontaktabzügen aussortieren.
Nach seinem Tod würde man Hunderte von nicht entwickelten Filmen Finden, jeder Zentimeter von Chautauqua dokumentiert, eine Art Landkarte.
«Unsere Abzweigung muss gleich kommen», sagte Meg, um ihn auf die Probe zu stellen.
«Rechts hoch», erwiderte er, doch sie blinkte schon.
Sie wusste es. Sie kamen jedes Jahr her.
Hier draußen war das Land wellig, in den Wald geschnittene Milchfarmen, verrostete Drahtzäune. Die Scheunen waren verlockend, doch aus dem Wagen war es sinnlos. Sie mussten unter der Interstate durchfahren, auf halbem Weg durch ein gelbes Feld verwandelte sich der Straßenbelag plötzlich in Ölkies, und Steinchen spritzten unters Auto.
«So schlimm hatte ich's gar nicht in Erinnerung», sagte Meg und hörte sich genau wie seine Mutter an.
Der Ölkies hörte auf, der Asphalt war ein Flickenteppich, und sie wurden richtig durchgerüttelt. Der Wald rückte auf beiden Seiten näher heran. Vor ihnen, auf der falschen Straßenseite, fuhr ein Junge in Sams Alter ohne Helm mit einem Geländefahrzeug. Bevor sie ihn einholten, bog er auf einen unbefestigten Weg und wurde von seiner eigenen Staubwolke verschluckt. Die Straße stieg an und überquerte eine Bahnstrecke, und als Meg langsamer fuhr, um ihre Stoßdämpfer zu schonen, sah Ken weit unten den grünen Tunnel aus Blättern. Vielleicht hatten sie das Mädchen irgendwo hier draußen begraben, hatten sie einfach im Wald liegen lassen. Der Jachthafen war zu auffällig.
Ihm konnte das egal sein. Der Tag war ausgefüllt. Morgen reisten sie ab, am Montag würde er wieder arbeiten. Wenn er noch eine Woche Zeit hätte - aber es war typisch, dass ihm ein undurchführbares Projekt in den Kopf kam und er es nicht zu Ende verfolgte. Auch diesmal war es so. Er hatte den ganzen Sommer nichts fertig gekriegt.
«Gravity Hill», las Meg und bremste vor der Abzweigung.
Es war am Ende der Welt, wie ein Rastplatz durch ein blaues Schild gekennzeichnet, mit dem klobigen Bild einer Kamera obendrauf und einer offiziellen Zufahrt. Am Straßenrand standen ein paar angekettete Campingtische im Gras, doch es gab keine Abfalleimer, und hinten auf dem Parkplatz wies ein Schild auf die Strafe fürs Müllabladen hin. Früher waren alle ausgestiegen, um zuzuschauen, und die Kinder waren neben dem Auto hergelaufen, aber jetzt hielt Meg bloß an dem dicken weißen Abziehbild, das als Startlinie diente.
«Seid ihr alle bereit?», fragte sie.
Keine Reaktion.
«Ich hab gefragt, ob ihr alle bereit seid.»
«Ja!», riefen die Jungs, und Meg schaltete in den Leerlauf und nahm die Hände vom Lenkrad.
Sie warteten. Er hatte Fotos davon gemacht, hatte im Lauf der Jahre ganze Videofilme aufgenommen, mit all den verschiedenen Autos, die sie einmal besessen hatten. Als Kind hatte er sich die Amateurfilme angeschaut, in denen der zweifarbige Chevy seiner Eltern bergauf rollte und sein Vater mit aufgesetzter Ray Ban verlegen aus dem Fenster winkte. Seine Mutter war in einem Cutlass aus den Sechzigern an die Reihe gekommen, ihr Haar einfach nur peinlich. Sogar er und Meg hatten als Jugendliche in ihren alten Kisten posiert, ein Beschleunigungsrennen in Zeitlupe.
Der Effekt hatte etwas damit zu tun, wie das Straßenbett angelegt und planiert worden war. Die Straße schien zwischen den beiden Steigungen abzufallen - oder es sah nur so aus, als wäre die zweite Steigung eine Steigung. Man blickte die Straße entlang und konnte nicht über den Hügel schauen, sodass man fälschlicherweise glaubte, es ginge bergauf. Sein Vater hätte es erklären können. Sam und Ella wussten, dass sie ihn nicht zu fragen brauchten.
«Bewegen wir uns überhaupt?», fragte Lise.
«Wenn es windig ist, dauert's länger», erwiderte Meg.
«Ist es denn windig?»
Er öffnete das Fenster und spähte wie aus einem Boot über den Rand. Die Straße rollte unter dem Trittbrett langsam
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