Abschied von Chautauqua
Glockenturm.
«Das ist mein absoluter Lieblingsplatz», sagte Henry.
«Meiner auch.»
Wenn sie doch nur hier bleiben könnten, ohne älter zu werden. Aber es war schon zu spät.
«Wirst du mit ihr herkommen?», fragte sie eines Nachts und wusste, wie sich das anhörte, aber er lachte nicht.
«Nein, dieser Ort gehört nur uns.» Und so, wie er es sagte, brauchte er es ihr nicht zu versprechen.
Danach waren sie noch ein paar Mal draußen gewesen, obwohl sie wusste, dass es Emily nicht gefiel. Ihre Gespräche waren anders verlaufen, als säße Emily zwischen ihnen.
Heute Nacht war Arlene herausgekommen, um das Läuten zu hören. Das Kanu war schon lange nicht mehr da, genauso wenig wie das Mahagoni-Chris Craft ihres Vaters (die Lady Belle, auf den Namen ihrer Mutter getauft) oder der alte Steg, doch sie war sich sicher, dass ihr Körper damals irgendwann ebendiesen Raum eingenommen hatte, hindurchgefegt war wie ein Gespenst - auf einer Bootsfahrt, beim Tauchen oder beim Angeln am Steg. Wahrscheinlich hatte sie hier am Ufer und dreißig Meter weit auf den See hinaus schon jeden Quadratzentimeter ausgefüllt. Doch das Wasser war völlig neu, das alte war jetzt Gott weiß wo. Flussabwärts. Sie musste an das Schaubild für ihre Drittklässler denken: Der Regen fiel auf die Berge und floss durch die Felder zum Meer, nur um dort zu verdunsten und wieder aus den Wolken herabzuregnen. Es war immer dasselbe Wasser, ein ewiger Kreislauf, und doch schien der See sie nicht mehr zu kennen.
Als Henry letzten Herbst im Krankenhaus gelegen hatte, war sie jeden Tag bei ihm gewesen. Einmal, als Emily aus dem Zimmer gegangen war, hatte er sie zu sich gewunken. Sie hatte seine Hand genommen und sich hinuntergebeugt, um ihn besser verstehen zu können.
«Arlie», hatte er unter großer Anstrengung gesagt.
«Ja, Henry.»
«Du musst Geduld mit ihr haben.»
Sie hätte fragen können, wen er meinte. «Hab ich doch immer.»
«Ich weiß», sagte er und brachte die Kraft auf, ihre Hand in beide Hände zu nehmen, als wollte er sie trösten. Sie hatte gedacht, er wollte ihr danken, weil sie all die Jahre mit Emily ausgekommen war, doch er schien sie aufzufordern, sich um Emily zu kümmern, schien Emily weiterzureichen, als wäre sie noch ein Kind. Es war ungerecht: Sie hatte immer nur ihn haben wollen, und nicht Emily. Er sollte sich zu der Beziehung bekennen, die schon vor allen anderen bestanden hatte und für Arlene - die nur einmal verliebt gewesen war - stärker war als alles, was darauf folgte. Doch er schien vergessen zu haben, wie es zwischen ihnen gewesen war, oder konnte es ihr nicht sagen, und es hätte sie noch tiefer verletzt, darauf zu beharren, ihn wie eine sitzen gelassene Frau anzuflehen.
Sie erinnerte sich, auch wenn alle anderen tot waren, und wie zum Beweis drang der erste Ton vom Glockenturm herüber. Und dann der zweite, kühl, über den See davongleitend. Sie saß ohne Zigarette da und lauschte, verschränkte die Arme gegen die Kälte, während sie sich weit draußen auf dem Wasser glücklich zurücklehnte und darauf wartete, dass er etwas sagte.
* 6
Justin wollte nicht aufwachen, also musste Ken ihn tragen. Meg schnappte sich die Schlafsäcke und bat Sarah, die Kissen mitzubringen. Ja, und Tigger. Der Rest musste bis morgen warten.
Sie war so lange gefahren, dass sie nur noch ins Haus gehen, die Kinder hinlegen und sich dann auf einen Stuhl fallen lassen wollte. Die Augen und der Rücken taten ihr weh, sogar die Hände, verkrampft, weil sie das Lenkrad umklammert hatten, doch Meg und die Kinder hatten es geschafft, ohne Strafzettel oder größere Auseinandersetzungen. Das empfand sie als eine große Leistung.
Das Gras unter ihren Füßen war feucht und klumpig - sie trat auf Kastanien. Sie war überrascht zu sehen, dass Arlene ihnen die Fliegentür aufhielt; normalerweise schlief sie um diese Zeit schon. Dass ihre Mutter bereits ins Bett gegangen war, überraschte sie nicht. Morgen würde sie als Erstes zu hören kriegen, wie große Sorgen sie sich gemacht hatte (aber nicht so groß, dass sie aufgeblieben war).
Drinnen stach ihr das Licht in die Augen, und als sie die Treppe raufsteigen wollte, konnte sie nichts sehen, musste stehen bleiben, und Ken stieß mit ihr zusammen.
Der Ventilator lief, es roch genau wie immer, und Meg fühlte sich sofort um dreißig Jahre zurückversetzt, war wieder eine Dreizehnjährige, die ihre
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