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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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sie gehen.
      Sie öffnete die Tür und betrat die muffige Dunkelheit der engen Treppe. Sie bemühte sich, leise hinaufzusteigen, die Hand an der Wand. Mit jedem Schritt wurde es wärmer, obwohl der Ventilator auf vollen Touren lief. Sie hatten im Bad das Licht angelassen; Sam und Ella lagen in dem schwachen Schimmer auf dem Fußboden ausgestreckt, Sam das Kissen halb unter sich, das Nachthemd so verdreht, dass sein Bauch hervorschaute, Ella mit offenem Mund, die Knie angewinkelt, sodass ihr Schlafsack wie ein Zelt aussah. Wenn Lise die beiden im Schlaf betrachtete, fand sie sie manchmal bezaubernd und viel versprechend, doch meistens erschienen sie ihr linkisch und unbeholfen (Sams Haare ganz wuschelig, Ellas Finger zusammengepresst), und sie empfand eine noch größere Zärtlichkeit für sie, als müssten sie vor dem Urteil ihrer Mutter geschützt werden. Das hier war ein Bild für Ken, unvollkommen und lebendig, keine dieser kühlen Szenen, die sein Professor als Kunst bezeichnete.
      So wie er sich in letzter Zeit verhalten hatte, wagte sie nicht, ihm das zu sagen. Es machte ihr Sorgen, ihn so verzweifelt zu sehen. Er hatte das, was er liebte, zu seiner Arbeit gemacht. Sie glaubte an ihn, das wusste er, doch das genügte nicht. Er wollte, dass alle ihm sagten, er sei großartig, und das würde vermutlich nie passieren.
      Sie nahm ihr Buch mit ins Bad und legte es auf die rote halbmondförmige Matte vor der Toilette, saß dann aufgewühlt da, kratzte an ihrer Lebenslinie, betrachtete ihren runzligen Daumen und dachte an das Geschirr, das sie gespült, die Anrufe, die sie beantwortet, die Männer, die sie berührt hatte, ihr gesamtes Leben in ihre Haut geprägt. Ein Leben wie jedes andere. Wenn man zu lange nicht geschlafen hatte, wurde die Welt unermesslich. Sie rieb sich die Augen und fuhr mit den Fingerspitzen über die Brauen. Was würde er tun - was würden sie tun? Das Buch lag zwischen ihren Füßen auf der Matte, doch plötzlich war ihr Harry Potter egal; sie las es bloß, um zu sehen, was die Kinder daran fanden. Flucht. Das konnte sie jetzt gebrauchen.
      Das Wasser stank, was sie jedes Mal von einem Jahr zum nächsten vergaß. Zum Kochen benutzten sie abgefülltes Wasser aus langen Plastikflaschen, die sie neben der Mikrowelle auf der Arbeitsplatte aufbewahrten, aber zum Zähneputzen war sie auf den Wasserhahn angewiesen. Das Waschbecken war fleckig. Pupswasser sagte Sam dazu, und sie spülte sich rasch den Mund aus, spuckte das Wasser ins Waschbecken und überdeckte den Geschmack mit einem Schluck Listerine.
      «Igitt.» Sie betrachtete sich im Spiegel. Am Kinn zeigte sich ein von Emily verursachter Pickel.
      «Na toll.»
      Sie nahm ihr Buch vom Fensterbrett, tastete sich durch das schummrige Zimmer zu ihrem Bett, tappte dann zurück und suchte Ellas Taschenlampe aus dem Sommerlager, schaltete sie ein und steckte sie unter ihr Kissen. Nach der Autofahrt fühlte sie sich schmutzig, doch in der Dusche stank es, und sie würde ihr Haar nicht mehr trocken bekommen. Sie ließ ihre Shorts und ihr Top auf den Kleiderhaufen bei der Kommode fallen und zog ein T-Shirt an, setzte sich dann aufs Bett und schwang die Beine unter das feuchte Laken. Lise legte sich hin, die Taschenlampe in die Achsel geschmiegt, von wo der Lichtkegel auf die Buchseite und drüber hinaus geworfen wurde, sodass an der Zimmerdecke eine Art Mondfinsternis entstand.
      Sie war überzeugt, dass sie diesen Satz schon einmal gelesen hatte. Harry stieg an Gleis neundreiviertel in den Zug nach Hogwarts und sah zum ersten Mal den Schulleiter Dumbledore, auf einer Visitenkarte, von der das Bild verschwand, als Harry sie umdrehte. Kein Wunder, dass den Kindern dieses Zeug gefiel, denn ständig passierte etwas Unglaubliches. Am Ende des Kapitels war sie tief in die Märchenwelt eingetaucht. Sie musste sich sogar davon abhalten weiterzulesen. Sie tastete auf ihrem Bauch nach dem Lesezeichen, legte das Buch ehrfürchtig auf die Zederntruhe und knipste die Taschenlampe aus.
      Auf der anderen Seite des Zimmers dröhnte weiter der Ventilator. Ella bewegte sich und schlürfte - wegen ihrer Zahnspange -, und Lise fragte sich, wie spät es sein mochte und ob mit Meg alles in Ordnung war. Aus ihrem Zimmer blickte man auf die Garage, die sich im Licht des Strahlers über der Küchentür grell wie in einem Film noir abzeichnete, und den Grill, der unter dem Baum stand. Es ging kein Wind, nur das leise Klatschen des Wassers war zu

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