Abschied von Chautauqua
hatte er bloß getan, um ihr den Urlaub zu verderben. Sie konnte kaum glauben, dass er so grausam war - doch, sie konnte es. Nach letztem Jahr konnte sie alles glauben.
Sie beobachteten, wie Sam und Justin sich hinkauerten und dann durchzwängten - Ken lehnte sich an einen Baum, damit er die Kamera ruhig hielt - und dann Sarah und Ella, so einfach war das. Die Jungs schrien und kreischten hinter den Felsen, heulten wie Gespenster, und sie erinnerte sich, dass Ken dasselbe getan hatte, während sie hinter ihren Eltern hertrottete und vor Wut kochend nach Steinen trat. Schon bei dem Gedanken an ihre Kindheit kam sie sich wieder wie ein Kind vor. Am liebsten wäre sie zu der Spalte raufgeklettert, um zu sehen, wie groß sie war, und dann vielleicht durchzugleiten, bloß als Beweis, dass sie es konnte. Es würde nichts ändern, und im Beisein der anderen war sie gehemmt. Wenn sie allein wäre, würde sie es wahrscheinlich tun, würde ihre Kleider ruinieren und sich hinterher dumm vorkommen.
Sie gingen weiter, vorbei an Crow's Foot, Indian Fireplace und Paradise Alley, am Golden Gate, dem Tower of Babel und der Counterfeiter's Den. Inzwischen sah für sie alles gleich aus.
«Wer hat sich denn diese Namen ausgedacht?», fragte Lise.
Ken ging vor, damit er von oben fotografieren konnte, legte sich auf die Felsen und beugte sich so weit vor, dass Lise schrie, er solle vorsichtig sein.
«Ich schwöre, er ist schlimmer als die Kinder», schimpfte Lise - das hatte Emily immer über Megs Vater gesagt, und sie über Jeff.
Meg dachte, dass es andersherum war. Erwachsene waren wirklich schlimmer. Kinder konnten nichts dafür, dass sie ichbezogen waren - das musste so sein. Sie wussten nicht, was passieren würde, wenn sie etwas taten, wussten auch nicht, dass sie anderen Menschen wehtun konnten. Zwischen Unwissenheit und Dummheit bestand ein Unterschied.
In der Sache mit dem Haus wollte sie zu Ken ehrlich sein. Sie dachte, dass sie vielleicht heute Abend mit ihm reden könnte. Und das Schreckliche war, dass er es verstehen würde. Weder würde er es ihrer Mutter übel nehmen, dass sie ihr aus der Patsche half, noch würde er sie für eine Heuchlerin halten, höchstens am Anfang. Vielleicht schob sie es deshalb hinaus, ihm alles zu sagen.
Mit Jeff konnte sie sich im Augenblick nicht befassen. Das würde noch früh genug nötig sein, und mit äußerster Konzentration verdrängte sie ihn und Stacey aus ihren Gedanken. Es war ihr Urlaub.
Sie brachten den tiefer gelegenen Teil des Wegs hinter sich, Meg und Lise trieben die Kinder zusammen und scheuchten sie bergauf zu den kahlen Felsplatten. Der Weg führte an der Felskante entlang. Hier oben war es gefährlich, die Klüfte und Spalten verlockend, und es gab keine Zäune, um die Leute am Drüberspringen zu hindern. Sie fand es nicht überraschend, dass es schon Unfälle gegeben hatte. Lise musste Sam an die Hand nehmen. Justin hielt sich von der Felskante fern. Hier befanden sich die Ice Cave und die Covered Bridge und, als Letztes, die enttäuschende Gap.
«Das war's», sagte Ken und faltete den Prospekt zusammen.
«Ich weiß auch nicht, warum», sagte Meg, «aber diesmal kam es mir kürzer vor.»
«Wirklich?», fragte Lise.
«Wahrscheinlich hatte ich es anders in Erinnerung.»
Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, begriff sie, wie das klang. Sie wollte bloß damit ausdrücken, dass ihr der Park fremd vorkam, kleiner, und sie nicht glauben konnte, dass ihr all das einmal Angst eingejagt hatte.
Zu Justins Verärgerung war die Snackbar auf unbestimmte Zeit geschlossen. Ihr fiel das Papierchen in ihrer Gesäßtasche ein, doch man konnte es nirgends loswerden. Sie musste das Auto sowieso sauber machen.
Sie schaltete die Lüftung ein, schnallte sich an und vergewisserte sich dann, ob alle den Gurt umgelegt hatten. Bei der Abfahrt warf sie einen letzten Blick auf den Park. Die Sonne fiel auf die Bäume und ließ alles darunter in tiefem Schatten - ein Ansichtskartenmotiv. Der Parkplatz war leer, da waren nur das dünne Geländer, das zur Snackbar führte, und der alte Mann am Kartenschalter, der seinen Stephen King las. Es gab nichts, wovor man Angst haben musste. Dieses Leben lag jetzt hinter ihr - war nicht verschwunden, nein, sondern noch immer ein Teil von ihr, doch es gehörte der Vergangenheit an, und sie musste dafür sorgen, dass es dort blieb, musste es loslassen, so schwer das auch sein mochte, wenn
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