Abschied von der Küchenpsychologie
über Mobbing in der Schule – sie werden nicht alle genau dasselbe wiedergeben, selbst wenn sie gleichermaßen sorgfältig gelesen haben. Soweit es also um die
Aussagen
eines Textes, eines Vortrages oder eines Films geht, ist es typisch, dass verschiedene Lernende ihn teilweise unterschiedlich verarbeiten.
Diese Unterschiede haben sehr viel mit dem Vorwissen zu tun. Wer versteht und behält mehr von einem Vortrag zur Primzahlforschung: ein Germanist oder ein Mathematiker? Und wer versteht und behält mehr von einem Vortrag zur Schiller-Forschung? Das Vorwissen ist gewissermaßen ein Netz, das die neuen Informationen einfängt. Je differenzierter und geordneter es ist, umso besser für das Lernen mit Verständnis. (Die manchmal zu hörende umgekehrte Annahme, dass nichts mehr in den Kopf hineingeht, weil er schon mit Wissen vollgestopft ist, ist reiner Unsinn.) Ein weiterer Faktor, der die individuelle Verarbeitung mitbestimmt, ist die Motivation der Lernenden: Mit welchem Interesse, mit welcher Absicht liest man? Je nachdem wird man Unterschiedliches «herausholen».
Verständniswissen besteht also nicht aus gespeicherten Wörtern, Bildern und Symbolen, sondern aus
Bedeutungen
, aus abstrahierten Sinngehalten. Bedeutungen sind Ausschnitte aus einem Gewebe von Zusammenhängen. Das gilt auch für das Herzstück semantischen Wissens: für Begriffe – wobei Begriffe nicht Wörter sind, sondern deren Bedeutungsgehalt! «Buch», «book» und «livre» sind verschiedene Wörter für denselben Begriff. Sein Bedeutungsgehalt umfasst unter anderem: Papier, Schrift, Verfasser etc., zur Bedeutung von «Verfasser» wiederum gehört … usw. Insofern sind Begriffe Ausschnitte aus einem riesigen Wissensnetz.
Verständniswissen, so der Trend in der kognitiven Lernforschung, entsteht durch aktives Konstruieren. Man
entwickelt
es auf der Basis seines Vorwissens, und das Ergebnis ist eine
Änderung
des bisherigen Wissens. Was tut man beim Konstruieren? Vor allem: Man elaboriert und organisiert, wie es in der Fachsprache heißt. Bei der
Elaboration
verbindet man die neue Information mit dem Vorwissen, z.B. mit verwandten Begriffen, mit eigenen Beispielen, mit bildhaften Vorstellungen usw. – so bekommt die neue Information einen «Sinn». Wenn man sagt: «Ah, jetzt verstehe ich», dann ist das der Augenblick, in dem man die neue Information in sein Vorwissen einordnen kann. Die
Organisationsprozesse
sorgen für innere Ordnung und reduzieren die Informationsfülle: z.B. durch Abstrahieren von Grundgedanken oder durch Strukturieren in Kategorien. Lernen in diesem Sinne ist ein höchst individueller Prozess; jeder Mensch bildet seine ganz persönlichen Wissensnetze.
Wenn Lernen mit Verständnis nicht durch Einprägen zu erreichen ist, so kann man als Lehrender Verständnis auch nicht «eintrichtern». Durch gute Erklärungen kann man das Verstehen zwar erleichtern, letztlich entscheidend sind aber immer die geistigen Aktivitäten der Lernenden.
Nehmen wir als Beispiel eben jene Aussage, die hier das Thema ist: «Der Erwerb von Verständniswissen ist ein aktives Konstruieren.» Was würde es nützen, sich diese Aussage durch mehrfaches Wiederholen einzuprägen? Wer sich unter aktivem Konstruieren nichts vorstellen kann und wer nicht weiß, was mit Verständniswissen im Vergleich zu anderen Wissensarten gemeint ist, hat die Aussage nicht verstanden. Umgekehrt hat man erfolgreich gelernt, wenn man eine Aussage in eigenen Worten
sinngemäß
wiedergeben kann, auch wenn man sich an kein einziges Wort des Originalwortlauts erinnern kann. Beim Lernen mit
Texten
ist das fast immer so: Gelernt wird
aus
dem Text, nur ausnahmsweise lernt man den Text selbst (z.B. als Schauspieler). In manchen Fällen ist es allerdings hilfreich, zusätzlich zum Verständniswissen auch den verbalen Wortlaut auswendig zu lernen. Wer z.B. die binomischen Formeln aufsagen kann, spart Zeit, wenn er die Formeln braucht. Wer sie aber
nur
aufsagen kann, kann sie nicht sinnvoll anwenden.
Das Ergebnis verstehenden Lernens existiert in unserem Gedächtnis, wie gesagt, als Wissensnetz aus zahllosen Bedeutungsgehalten. Darüber hinaus konstruieren wir häufig auch sog.
mentale Modelle.
Sie bestehen aus Bedeutungen
und
visuellen Vorstellungen. Wir entwickeln beispielsweise beim Lesen eines Romans ein inneres Bild von den Beziehungen der Personen, oder wir stellen uns die zoologische Systematik von Wirbeltieren als Baumdiagramm vor. Manche schematische Darstellungen in
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