Abschied von der Küchenpsychologie
weiteren sechs Themen (Kapitel 8 ) stehen unter geläufigen Titelbegriffen. Es geht dort um individuelle Merkmale und Probleme von Menschen (Intelligenz, Stress, Angst, Glück) sowie um einige Fragen der Diagnostik und Therapie.
7. Populäre Irrtümer und Kurzschlüsse
Die Aussagen, die als Titel über den fünf Themen dieses Kapitels stehen, klingen vielleicht wie Binsenweisheiten, und doch kann man sie aus wissenschaftlicher Sicht nicht so stehen lassen. Die Aussagen über die Macht von Charakterzügen und über das turbulente Jugendalter sind zwar nicht ganz falsch, aber doch sehr einseitig. Die anderen drei Aussagen sind als regelrechte Irrtümer anzusehen. Sie betreffen die Frage, was Erblichkeit bedeutet, ob Geschwister in der gleichen Umwelt aufwachsen, und ob es der kindlichen Entwicklung schadet, wenn beide Eltern berufstätig sind.
7.1 «Der Charakter bestimmt das Verhalten eines Menschen»
Als die Mutter des jungen Mannes schwer an Krebs erkrankte, pflegte er sie lange und aufopferungsvoll, und als sie starb, war er so tief erschüttert, wie der behandelnde Arzt selten einen Menschen gesehen hatte. Diesem Arzt, einem frommen Juden, der sich fürsorglich um die kranke Frau bemüht hatte, dankte der junge Mann mit den Worten: «Ich werde Ihnen, Herr Doktor, ewig dankbar sein». Und das war er dann auch. In den folgenden Jahren schickte er ihm Neujahrsgrüße aus Wien, und noch dreißig Jahre später, als er zum Führer des Deutschen Reiches aufgestiegen war, stellte er ihn beim «Anschluss» seiner österreichischen Heimat unter seinen besonderen Schutz. «Lebt mein guter alter Dr. Bloch noch», soll er gefragt haben, und er befahl, dass der Arzt in seiner Linzer Wohnung bleiben durfte und diese nicht als Judenwohnung gekennzeichnet wurde. Später emigrierte Eduard Bloch in die Vereinigten Staaten.
Gewiss würde niemand sagen, dass Sorge um das Wohlergehen der Mitmenschen zu Hitlers herausragenden Charakterzügen gehörte, zumal wenn es sich um Juden handelte. Und dennoch: der schlimmste Antisemit der Weltgeschichte stellte einen Juden unter seinen Schutz, wie die Historikerin Brigitte Hamann herausgefunden hat. Macht das Hitler zu einer widersprüchlichen Persönlichkeit? Ist ein Verhalten, das von persontypischen Tendenzen abweicht, psychologisch ungewöhnlich? Das wäre es nur, wenn man davon ausgeht, jegliches Verhalten eines Menschen müsse sich auf einen Nenner bringen lassen, auf eine feststehende Charaktereigenschaft, von der es ausschließlich bestimmt wird. Wie in Kapitel 4 erörtert, wird Verhalten aber immer auch von Kontextfaktoren bestimmt, in diesem Fall von einer besonderen interpersonalen Beziehung. Die Annahme, das Verhalten eines Menschen sei ein Ausdruck seiner Charaktereigenschaften, ist damit zwar nicht falsch, aber doch ein Kurzschluss, eine unzulässige Vereinfachung.
Während im Beispiel Hitler ein Mensch mit deutlich antisozialen Eigenschaften positives Sozialverhalten zeigt, findet man ebenso das Umgekehrte, nämlich gewalttätiges Verhalten durch Menschen, die ansonsten von allen, die sie kennen, als friedfertig bezeichnet werden. Oder sollte man annehmen, dass z.B. alle Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg eingezogen wurden und sich am Töten und Verwüsten beteiligten, insgeheim gewalttätige Charaktere waren? Eine solche Annahme übersieht die Macht der speziellen Situation, die von den beteiligten Personen Handlungsweisen erzwingt, die sie weder davor noch danach jemals zeigten bzw. zeigen. Wie viel Sinn macht da die gelegentlich zu hörende Deutung, in dieser Situation habe sich der «wahre Charakter» gezeigt? Ist das persontypische Verhalten dann sozusagen «unwahr»?
Die Alltagspsychologie neigt dazu, erstens das Gewicht personaler Faktoren zu überschätzen und die Rolle von Kontextfaktoren zu unterschätzen, und zweitens die Personfaktoren als sehr umfassende Eigenschaften zu verstehen («X ist ordentlich», «Y ist aggressiv», «Z ist humorvoll» etc.).
Vorsicht: Überschätzung der «Person»
Zum ersten Punkt: Wenn wir das Verhalten eines anderen Menschen erklären, schauen wir vornehmlich auf die Person und vernachlässigen äußere Einflüsse. Für diese Tendenz gibt es seit langem zahlreiche Belege. In einem Experiment von Napolitan und Goethals schlossen Beurteiler aus dem freundlichen bzw. dem unfreundlichen Verhalten einer jungen Frau auf einen warmherzigen bzw. einen kühlen Menschen – auch dann, wenn man ihnen erklärt hatte, dass die Frau sich
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