Abschied von der Küchenpsychologie
die Gründe oft an ganz anderen Stellen liegen.
Das Jugendalter beginnt mit dem Eintritt der Geschlechtsreife, und die kommt natürlich nicht ohne hormonelle Umstellungen zustande. Es treten gravierende körperliche Veränderungen ein, die äußerlich sichtbar sind, und es vollziehen sich (übrigens nicht zum ersten Mal) Umstrukturierungen im Gehirn, die nicht sichtbar sind. Was das Verhalten betrifft, so distanzieren sich die Jugendlichen in gewissem Grade vom Elternhaus und orientieren sich stärker an den Gleichaltrigen. Überdies ist das Jugendalter eine Zeit, in der die Selbstbetrachtung eine zentrale Rolle im Denken und Fühlen spielt. Das alles sind bedeutsame Veränderungen, und ihre Begleiterscheinungen sind nicht immer auf den ersten Blick verständlich und können vor allem den Eltern Sorgen bereiten.
Aber: Ist das Jugendalter wirklich eine Zeit der labilen Stimmungen? Eine Zeit des verminderten Selbstwertgefühls? Eine Zeit des Aufruhrs gegen die Eltern? Eine Zeit der Gewalttätigkeit? Forschungen der letzten Jahrzehnte können dies so nicht bestätigen, wie Rolf Oerter und Eva Dreher in ihrem Überblick berichten. Zwar findet man, wie auch in anderen Altersphasen, gravierende Probleme bei einer Minderheit von Jugendlichen (s.u.), doch aufs Ganze gesehen sind im Jugendalter die emotionalen Probleme nicht größer als in anderen Entwicklungsabschnitten. Im statistischen Durchschnitt sind Jugendliche nicht emotional labiler, nicht ängstlicher, nicht depressiver, nicht feindseliger als Kinder und Erwachsene. Auch sind das Selbstbild und die Selbstakzeptanz bei den meisten Jugendlichen stabil.
Was die Beziehungen zu den Eltern betrifft, so fasst der Entwicklungspsychologe Alexander Grob die Befunde so zusammen: «Die Zeit, die Kinder mit ihren Eltern verbringen, nimmt im Jugendalter ab. Dennoch verstehen sich die meisten Jugendlichen mit ihren Eltern gut und nehmen sie als Berater in wichtigen Lebensfragen in Anspruch. Konflikte entwickeln sich häufig bei abrupten Veränderungen familialer Bindungen (z.B. Auszug älterer Geschwister, Trennung der Eltern). Dann versuchen die Jugendlichen neue Rechte und Sicherheit zu gewinnen. Jugendliche erleben mit ihren Müttern intensivere Konflikte als mit den Vätern, wohl weil Mütter stärker in die Erziehung der Kinder eingebunden sind als Väter. Mütter wünschen sich auch mehr Informationen über die Aktivitäten der Jugendlichen. Dieser Wunsch kann von den Jugendlichen als Kontrolle wahrgenommen werden und zu Konflikten führen. Da sich der Kommunikationsstil der Jugendlichen mit zunehmendem Alter verbessert, indem sie häufiger Begründungen für ihre Position liefern und ihre Ansichten klarer ausdrücken, werden die Konflikte in der Folge auch häufiger positiv gelöst.» Die Jugendlichen streben meist nicht wirklich von der Familie weg, sondern suchen schrittweise mehr Autonomie und mehr außerhäusliche Beziehungen. Es ist weniger eine Ablösung vom Elternhaus als vielmehr eine Neustrukturierung der Beziehungen.
Interessant ist übrigens, dass Probleme mit dem Jugendalter, so Jeffrey Arnett, in vielen traditionellen Gesellschaften in Asien und Afrika weit weniger ausgeprägt sind als in den westlichen Industrienationen, in denen die individuelle Selbstbestimmung einen hohen Wert hat. Die Veränderungen im Jugendalter einschließlich eventueller «Krisensymptome» können also nicht einfach eine Wirkung von Hormonen sein – denn die sind in anderen Kulturen natürlich ebenso am Werke.
In unserer Gesellschaft sehen sich Jugendliche häufig mit zwiespältigen Erwartungen und Bewertungen der Umwelt konfrontiert. Einerseits signalisiert man ihnen, sie seien nun «groß genug», sich so vernünftig wie Erwachsene zu benehmen. Andererseits werden sie in vielfacher Hinsicht gegängelt. In Schule und Lehre haben sie vorgegebene Lernprogramme zu absolvieren und werden noch jahrelang wie Unmündige behandelt und nicht wie Menschen, die sich mit eigenen Ideen und Kompetenzen entfalten können. Dieser grundsätzliche Zwiespalt erklärt manche Konflikte zwischen Erwachsenen und Jugendlichen, wenn auch nicht die gravierenden Probleme bei einer Minderheit.
Im Übrigen erleben wohl manche Erwachsene, die den Jugendlichen eine Krise attestieren, im Grunde selber eine Krise, weil sie mit dem Verlust kindlicher Anhänglichkeit, mit der Distanzierung, dem Autonomiestreben und manchen Meinungen und Vorlieben ihrer Kinder nicht klarkommen.
Wilhelm Busch über eine
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