Abschied von Eden
die Erinnerungen allmählich verblassen. Dann geht’s mir langsam wieder besser. Und ich war gerade dabei, mich auch von dieser ganz schlimmen Phase zu erholen. Aber dann kam diese Vergewaltigungsgeschichte …«
Abel führte seinen Gedanken nicht weiter aus, und Decker sagte auch nichts dazu. Er hatte den Fall fast gelöst, aber fast reichte noch nicht. Er wartete darauf, daß Abel weitersprach.
»Du hast mich auf Kaution rausgeholt.« Abel ließ die Bierdose auf dem Tisch tanzen. »Dann hast du mich angesehen, als ob ich ein Verbrecher wär’ … da hab’ ich mir gedacht, wer bist du denn, daß du über mich richtest? Dann merkte ich, daß Rina mich genauso ansah. Warum hast du es ihr erzählt?«
»Das mußte ich tun.«
»Mußtest du nicht.«
»Hey, ich hab’ getan, was ich für richtig hielt.«
»Selbst wenn das bedeutete, daß ich wie ein Idiot dastehe.«
»Das hast du dir selbst zuzuschreiben, Kumpel.«
»Ich habe diese Nutte nicht vergewaltigt.«
»Ich sag’ ja nicht, daß du’s getan hast. Aber du hast sie gefickt. Wenn du dir Ärger vom Hals halten willst, dann gib dich nicht mit Nutten ab.«
»Danke, Reverend Decker … ach, Verzeihung – Rabbi Decker.«
»Abe, das bringt doch nichts.«
»Friede«, sagte Abel und schwenkte die Arbeitslampe. »Hör mal, ich weiß, daß ich dich eigentlich gar nicht darum bitten dürfte, aber ich hab’ was an Rina geschrieben. Könntest du’s ihr geben?«
»Sie ist gestern abend nach New York geflogen«, sagte Decker. »War froh, hier rauszukommen.«
»Habt ihr meinetwegen Probleme?«
»Bei uns ist alles in Ordnung. Das ist allerdings nicht dein Verdienst.«
»Könntest du denn diesen Brief für mich aufgeben? Ich weiß nicht mal ihre Adresse.«
»Was hast du geschrieben?«
»Du kannst es ruhig lesen«, sagte Abel. »Keine billigen Entschuldigungen. Nur daß es mir wirklich leid tut.« Er hielt inne, dann sagte er: »Hast du ihr erzählt, worum’s ging?«
Decker zögerte mit der Antwort. Schließlich sagte er: »Nein … nein, ich konnte es einfach nicht. Ich hab’ mir was aus den Fingern gesogen. Ich hab’ ihr erzählt, wir hätten mal einen Riesenkrach wegen ’nem Mädchen gehabt.« Decker lachte hohl. »Traf es wohl nicht so ganz.«
»Warum hast du’s ihr nicht erzählt?«
»Ich weiß nicht.« Decker räusperte sich. »Es ist so schwer, darüber zu reden. Wie du schon sagtest, Song war erst sechzehn, da muß ich oft dran denken. Ich war allerdings auch erst neunzehn – ein Krieg mit lauter Teenagern. Wir waren alle so jung und ahnungslos. In bestimmten Abständen läuft die Szene immer wieder vor mir ab.«
»Unser kleines Geheimnis«, sagte Abel. »Das ist es, was zwischen uns steht.« Mit den Fingern zog er auf dem Tisch eine imaginäre Linie zwischen sich und Decker. »Und es bleibt auch zwischen uns.«
Die Tür zum Studierzimmer des Rabbis stand einladend offen. Der Raum war in warmen dunklen Holztönen gehalten. Zwei Wände waren vom Fußboden bis zur Decke mit Bücherregalen zugestellt, die vollgepackt waren mit dicken Bänden jüdischer Gesetze nebst Kommentaren, mit Büchern über jüdische Geschichte, Sammlungen zur amerikanischen Rechtsprechung und mit weltlichen philosophischen Werken. An einer dritten Wand standen Schaukästen mit antiken jüdischen Gebrauchsgegenständen und religiösen Objekten, unter anderem ein altes Paar Phylakterien aus dem zaristischen Rußland. Sie hatten Deckers leiblichem Vater gehört, einem religiösen Mann, der sich nie ausersehen hatte zu heiraten, schon gar nicht ein zweites Mal. Decker hatte ihn nur einmal getroffen. Er hatte seine Adoptionsurkunde eingesehen und sich schließlich dem Mann per Telefon vorgestellt. Dann war er kurz nach New York geflogen, um ihn persönlich kennenzulernen. Bis auf die äußere Erscheinung hatten sie allerdings nichts gemein, doch der Mann mußte sich ihm trotzdem irgendwie verbunden gefühlt haben. Er hatte Decker nämlich all seine religiösen Utensilien testamentarisch vermacht.
Die vierte Wand bestand aus einem überdimensionalen Panoramafenster, von dem man in den Canyon blicken konnte mit seinen hohen Eukalyptusbäumen, dichten Sträuchern und wildwachsenden Blumen sowie auf die Berge dahinter. Rav Schulmans Schreibtisch stand vor dem Fenster, aber davon weit genug entfernt, so daß davor und dahinter Stühle paßten. Der Rabbi saß mit dem Rücken zum Fenster, und als Decker das Zimmer betrat, bedeutete er ihm mit einer Handbewegung, auf dem Stuhl
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