Abschied von Eden
mit der Aussicht Platz zu nehmen.
Decker setzte sich allerdings nicht sofort hin, sondern betrachtete erst die Phylakterien seines Vaters.
Rav Schulman bemerkte Deckers Ratlosigkeit. Er hatte gleich gewußt, daß etwas nicht in Ordnung war, als sein Schüler ihn unmittelbar nach dem Sabbat um eine Unterrichtsstunde bat. Schulman hatte Decker gesagt, er solle eine Stunde nach der samstäglichen Abendvorlesung für seine rabbinischen Schüler in sein Studierzimmer kommen.
Decker sah zu Schulman hinüber. Wie immer trug der Rabbi einen schwarzen Seidenanzug, ein gestärktes weißes Hemd mit schwarzer Krawatte und auf Hochglanz polierte geschnürte Halbschuhe. Der alte Mann erwiderte Deckers starren Blick mit verständnisvollen Augen. Obwohl Decker immer noch Bedenken hatte, ob es richtig gewesen war, hierherzukommen, jetzt war es zu spät. Schulman wußte, daß er Probleme hatte, also konnte er es genausogut hinter sich bringen.
Decker sprach als erster. »Was glauben Sie, Rabbi, wieviel von unserem Verhalten ererbt ist?«
»Da würde ich nicht mal eine Vermutung wagen, Akiva.«
Er redete Decker mit seinem jüdischen Namen an, der schon seit über einem Jahr sein Name war. Aber er klang immer noch fremdartig.
»Mein Vater …« Decker hielt inne, dann präzisierte er, »mein Adoptivvater, den ich als meinen wirklichen Vater ansehe, ist, würde ich sagen, ein sehr sanftmütiger Mensch. Ich bin aber alles andere als sanftmütig. Ich frage mich oft, ob mein leiblicher Vater vielleicht jähzornig war.«
Der Rabbi stand auf. Deckers Frage hatte seine Augen mit Schmerz erfüllt. Er drehte die Spitze seines silbrigen Bartes um einen Finger. »Was bedrückt Sie wirklich, Akiva?«
»Ich hab’ einen alten Freund von mir getroffen«, sagte Decker. »Wir haben zusammen in Vietnam gedient. Er hat schlimme Dinge wieder aufgerührt, die ich am liebsten vergessen würde. Aber nicht nur er hat mir einiges wieder deutlich bewußt gemacht. Manchmal passiert etwas, und ich verliere die Beherrschung. Dann bekomme ich diesen mörderischen Blick in den Augen. Ist mir neulich erst bei Rina passiert.« Decker wurde rot. »Sie wissen doch, daß Rina hier war?«
»Natürlich«, sagte Schulman. »Wir haben mehrere schöne lange Gespräche miteinander geführt.«
Der alte Mann mußte wissen, daß sie miteinander schliefen, aber Decker konnte es nicht an seinem Gesicht ablesen.
»Ich bin Ihnen ein Masel tow schuldig«, sagte Schulman.
»Danke. Ich hab’ lang darauf gewartet, daß sie ja sagt.« Decker räusperte sich. »Ich will ihr ein guter Ehemann sein und ihren Söhnen ein guter Vater. Ich will … ich will nicht, daß sie Angst vor mir haben. Aber manchmal ist es, als ob ich besessen wäre. Irgendwas ergreift von mir Besitz.«
»Jetzer Hara«, sagte Rav Schulman.
Decker dachte nach, bevor er antwortete. Jetzer Hara – der böse Trieb. Das traf es ganz gut. Er sagte: »Es ist nicht Gefräßigkeit oder Habgier. Es ist das Böse an sich. Das Verlangen zu zerstören. Was, zum Teu … , was ist bloß mit mir los?«
»Was machen Sie, wenn Jetzer Hara in Ihnen zu stark ist?« fragte Schulman.
»Meistens kann ich es unterdrücken, bis ich von der Arbeit komme«, sagte Decker. »Dann jage ich die Pferde wie ein Verrückter oder ballere wie wild auf meine Scheune. Wenn jemand in der Nähe ist, brülle ich ihn an. Einmal hab’ ich sogar meinen Hund getreten. Merkwürdigerweise müssen diese Wutanfälle nicht unbedingt von einer großen Sache ausgelöst werden. Es ist einfach ein Gefühl, das mich überwältigt.«
»Sie scheinen sich doch ganz gut unter Kontrolle zu haben«, sagte Schulman, »obwohl wir natürlich nett zu Tieren sein sollten. Tzar ba ’alei chaim.«
»Das Problem ist nur, zur Zeit lebe ich allein, und außer vielleicht meinem Hund und meinen Pferden kriegt keiner was von meinen Wutanfällen mit.« Decker sah den alten Mann an. »Aber das wird sich ändern. Rina hat mich einmal gesehen, wie ich die Beherrschung verloren hab’. Ich möchte nicht, daß sie das noch mal erlebt.«
»Nun ja«, sagte Schulman, »es ist schön, wenn man es schafft, perfekt zu sein, aber wir alle verlieren mal die Beherrschung …«
»Aber …«
»Warten Sie.« Schulman hielt eine Hand hoch.
»Entschuldigung.«
»Sie werden wütend, ich werde wütend, jeder wird wütend. Wovon Sie allerdings zu reden scheinen« – der Rabbi sprach mit deutlich akzentuierter Stimme –, »ist eine außergewöhnliche Wut, die vermutlich was mit Ihren
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