Abschied von Eden
Decker.
»Wahrhaftig. Ein Ness – ein Wunder von Haschem. Nun, um die Sache kurz zu machen …«
»Nein, bitte … Sie brauchen die Geschichte nicht meinetwegen zu verkürzen.«
»Ich verkürze sie wegen mir«, sagte Schulman. »Sie mögen Ihre Erinnerungen nicht, ich mag meine nicht.«
Decker schwieg.
»Irgendwie überlebte ich meine Lungenentzündung – Baruch Haschem war es Sommer – und wurde wieder ein sehr kräftiger junger Mann. Zwei Jahre lang lebte ich wie ein Tier im Wald. Auf meinen Streifzügen habe ich nur sehr wenige Leute getroffen. Einsiedler mit Bärten, die ihnen bis an die Knie reichten. Verrückte. Wilde, fast zu Tieren verkommene Menschen, die sich nur von ihren Instinkten leiten ließen. Vielleicht waren ein paar von diesen Verrückten entkommene Juden wie ich. Aber das ließ sich niemand anmerken, nu?«
Decker schüttelte den Kopf.
»Schließlich stieß ich auf ein rechtschaffenes nichtjüdisches Ehepaar, das sich meiner annahm. Sie erlaubten mir, einen ganzen Winter in ihrer Scheune zu leben. Sie gaben mir Decken, heiße Kohlen und Schwarzbrot. Die beiden setzten sogar ihr Leben aufs Spiel, als ihr Sohn, der bei der SS war, überraschend auf Besuch kam. Da versteckten sie mich in einem Heuhaufen.«
Schulman nippte an seinem Drink. »Nach dem Krieg hab’ ich versucht, die Leute zu finden. Es ist mir nicht gelungen.«
Er schwieg einen Augenblick.
»Der Besuch des Sohnes hatte mir klargemacht, welche Gefahr ich für diese Menschen bedeutete. Obwohl sie mich nicht darum gebeten haben, bin ich fortgegangen. Ich hab’ gelebt – überlebt –, indem ich mich von Blättern und Beeren ernährt und Wasser aus Bächen getrunken habe. Ich hab’ auch eine Waffe gefunden, mehrere sogar. Aber da ich immer koscher gelebt habe, hab’ ich nie versucht, ein Tier zu jagen. Ich hab’ nicht die Mentalität eines Schochet, obwohl ich theoretisch weiß, wie man ein Tier rituell schlachtet. Außerdem konnte ich mich ja mit den Früchten des Waldes am Leben erhalten. Nach so einem Ness war ich nicht in der Lage, die Gesetze der Kaschrut zu übertreten, auch wenn ich ein pikkuach nefesch – die Rettung eines Menschenlebens – als Entschuldigung hatte.«
»Ich wünschte, ich hätte Ihren Glauben«, sagte Decker.
»Wenn man ein solches Ness erlebt, kommt der Glaube von ganz allein, Akiva«, sagte Schulman.
Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er fort. »Gegen Ende des Krieges – damals wußte ich allerdings nicht, daß der Krieg bald zu Ende war – stieß ich bei einem Streifzug im Wald auf einen von Hitlers Auserwählten. Es war ein junger Mann – vielleicht achtzehn oder neunzehn – in einer schmutzigen Uniform. Er streunte halb benommen mit glasigen Augen durch die Gegend. Offenbar war er von seinem Regiment getrennt worden. Als er mich sah, fletschte er die Zähne und schmiß mir ein Wort an den Kopf. Jude. Das löste irgendeinen … Urzorn tief in mir aus.«
Schulmans Augen wurden hart.
»Ich wurde wütend und griff nach meiner Waffe. Plötzlich sah ich Angst in den Augen des Jungen. Stellen Sie sich vor, was das für ein Gefühl war. Ein dürrer, völlig mitgenommener Jude jagt einem Nazi panische Angst ein. Er begann, mich um Gnade anzuflehen, rief den Namen seiner Mutter. Ich blieb ungerührt und dachte, Gornish mein helfin. Jetzt würde ihm nichts mehr helfen. Ich wußte, wenn ich ihn laufenließ und er gerettet würde, würde man Jagd auf mich machen und mich erschießen. Oder er würde einfach weiter andere Juden ermorden. Für mich und für das klal Yisrael – das jüdische Volk – hab’ ich … ihn erschossen.«
Er zuckte mit den Schultern und sah Decker in die Augen.
»Ich hab’ das, was ich getan hab’, nie moralisch in Frage gestellt«, sagte Schulman. »Ich wußte, daß es richtig gewesen war. Es hat mir damals keine Gewissensbisse gemacht und tut es heute eigentlich auch nicht. Aber alle paar Jahre träume ich von diesem Jungen. Ich sehe die panische Angst in seinen Augen. Ich wache auf und spreche ein Bracha zu Gott, dafür, daß er mich gerettet hat. Doch dann frage ich mich …« Er zeigte mit einem Finger in die Luft, und seine Stimme nahm einen singenden Tonfall an. »Wenn ich doch so sehr im Recht war, warum läßt Gott dann zu, daß ich die Angst dieses Jungen so deutlich vor mir sehe wie an dem Tag, an dem ich ihn erschossen habe?«
»Haben Sie eine Antwort darauf?« fragte Decker.
»Nur Vermutungen«, sagte Schulman. »Aber am einleuchtendsten scheint
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