Abschiedskuss
Mann nickt mit gesenktem Blick. Der Professor fährt fort:
»Technisch absolut einwandfrei. Wollen Sie mir sagen, wer das ist?«
»Niemand Besonderes.«
»Entschuldigen Sie, könnten Sie etwas lauter sprechen?«
»Das ist niemand Besonderes. Vielleicht steht sie ja … für die Frau … in uns allen.«
Ich sehe Jacks Gesicht an, wie sehr er leidet. Ihm ist das Ganze hier ziemlich unangenehm. Trotzdem kämpft er weiter.
»Wir entspringen ja gewissermaßen alle dem Schoß einer Mutter. Ich weiß nicht recht, was ich sonst noch sagen soll. Das Bild spricht für sich. Hoffe ich.«
»Sie haben auf jeden Fall das Recht, so zu empfinden, Jack. Es stimmt. Das Bild spricht für sich. Es schreit regelrecht. Ist es in Ordnung, dass ich jetzt die allgemeine Diskussion eröffne?«
Jack nickt erneut und schaut zu Boden. Er lässt seine langen Arme hängen, um seine Augen liegen dunkle Schatten. Ashley hebt die Hand und beginnt in Jacks Richtung zu sprechen, ohne die Erlaubnis abzuwarten.
»Ich habe nicht vor, mich hier an irgendeiner Psychoanalyse zu versuchen …«
»Danke«, sagt Jack mit einem schiefen Lächeln, das kurz aufblitzt und sofort wieder verschwindet.
»… aber meine Interpretation lautet, dass du die äußere Gestalt bist und dass die Wunde etwas repräsentiert, was du empfindest oder erlebt hast.«
»Ich finde das Bild gruselig«, mischt sich Nikita mit Nachdruck ein. »Aber irgendwie faszinierend gruselig. Man muss es einfach immer wieder anschauen.«
Ich empfinde es genauso. Jacks Gemälde erschüttert mich. Die kleine Gestalt dort im Blut. Schläft sie, oder ist es nur ein scheinbarer Schlaf? In allem anderen erkenne ich nur Jack wieder. Es erschüttert mich ebenfalls. Ich bekomme nur noch mit Mühe Luft.
Unser Mentor nimmt die Diskussion wieder auf.
»Natürlich, Nikita. Aufgabe der Kunst ist es nicht immer, zu gefallen oder dekorativ zu sein. Kunst soll das Leben spiegeln, das menschliche Erleben mit seinen hellen und dunklen Seiten. Sind Sie der Meinung, dass es sich bei diesem Doppelporträt um ein Beispiel für impressionistische oder tendenziell eher um expressionistische Malerei handelt? Maja?«
Als Chesterfield meinen Namen ausspricht, gewinne ich die Fassung zurück, und der Seminarraum bekommt allmählich wieder Farbe und Konturen. Täusche ich mich, oder klingt seine Stimme ein wenig herablassend? Ich räuspere mich und streiche mir mit der Hand über Stirn und Augen, bevor ich antworte.
»Natürlich ist dieses Werk Ausdruck für etwas, was aus dem Inneren des Künstlers kommt, es ist also expressionistisch.«
Ich konzentriere mich darauf, meine Aussprache so britisch wie möglich klingen zu lassen, und merke, dass meine Stimme ein wenig affektiert wirkt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Jack mir einen anerkennenden Blick zuwirft. Das kann aber auch Einbildung sein. Ich bin schweißnass unter den Armen.
»Darf man fragen, warum du die äußere Figur ohne Kopf gemalt hast, Jack?«, will jemand wissen.
»Fragen darf man schon. Aber mir ist es lieber, wenn die Leute ihre eigenen Deutungen finden und nicht darauf warten, dass ich ihnen erkläre, was richtig und was falsch ist und was ich eigentlich sagen wollte.«
Jacks letzte Worte schweben noch in der Luft, als die Stunde endet. Aber niemand scheint es eilig zu haben, nicht einmal Jack. Stattdessen drängen sich alle vor der Staffelei. Wir unterhalten uns über Techniken und Material, wir reden eifrig durcheinander, weil wir erleichtert sind, die erste Feuertaufe überstanden zu haben. Alle wollen sich Jacks Leinwand genauer ansehen. Wir stehen vertraulich beieinander, Bauch an Rücken, Hüfte an Hüfte, und schauen in den makabren Guckkasten, aus dem uns ein eingesunkenes kleines Frauengesicht entgegenblickt.
Die Große Halle ist nach der Empfangsparty sorgfältig gereinigt worden. Es riecht nach Essen – Kalbskotelett mit Bratkartoffeln – und gleichzeitig nach Scheuerpulver und Möbelpolitur.
»Ich finde nicht, dass Leo, ich meine, der Professor, so ist wie im Sommer. Irgendwie hat er was … Gehetztes, meinst du nicht auch?«, sagt Nikita.
Ash schüttelt verständnislos den Kopf. Ich kann dazu nichts sagen. Nikita lässt das Thema auf sich beruhen.
»Meine Güte, bin ich hungrig«, beginnt sie erneut. »Und durstig. Wollen wir nicht zusammen eine Flasche Wein trinken und unsere erste Aufgabe feiern?«
Wir anderen nicken eifrig, und Ashley reicht mir ein nasses Tablett. Ich denke an den Speisesaal in der Schule in
Weitere Kostenlose Bücher