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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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abgestimmt. Ein französischer Balkon geht auf den Hirschgarten, in dem einige Tiere mit vom Nebel feucht glänzendem Fell unter den Bäumen herumstolzieren. Das Licht der hereinbrechenden Dämmerung verleiht dem bunten Laub noch mehr Leuchtkraft. Kupfertöne. Rostbraun, Vogelbeerrot und dazu einige hohe, spitze Baumkronen mit fast violettem Laubwerk. Wie Heidekraut. Der Herbst kommt in diesem Land so viel später, denke ich. Ich erlebe ihn in diesem Jahr zweimal.
    Hinter der Rückenlehne des Professors befinden sich zwei Türen, eine steht offen, die andere ist halb geschlossen. Ich sehe geradeaus in ein Zimmer, von dem ich annehme, dass es sein Arbeitszimmer ist. Hier ist der Stil altenglisch: gestreifte Tapeten, Schreibtisch aus Kirschbaumholz und eine Bibliothekslampe mit grünem Schirm. Die andere Tür führt vermutlich ins Schlafzimmer. Wenn ich mich diskret etwas nach links lehne, sehe ich dort im Halbdunkel ein Stück dunkelrote Wand und den Rand eines opulenten Bilderrahmens.
    »Ein Glas Wein?«, fragt Chesterfield und zieht mit einem Plopp den Korken aus einer bereits geöffneten Flasche. Ich nicke, und er reicht mir ein zur Hälfte gefülltes Wasserglas. Ein betont schlichtes Glas, wie man es für Tafelwein verwenden würde, wenn man irgendwo in Frankreich ein kleines Sommerhaus besäße. Vielleicht besitzt Leopold Chesterfield ja eines. Ich sitze sehr tief in einem unbequemen Lehnstuhl, und vor Nervosität ist mir ganz übel.
    »Zum Wohl. Ich glaube an die positive Wirkung von Alkohol«, sagt Chesterfield und schmatzt zufrieden. »Allerdings eigentlich nicht vor achtzehn Uhr. Aber heute machen wir eine Ausnahme. Wir müssen schließlich die erste Hausaufgabe feiern, nicht wahr? Haben Sie Papier und Stift dabei?«
    Professor Chesterfield bittet mich, alles Material aufzulisten, das ich verwende, wenn ich »schaffe«. Es wird eine magere kleine Liste.
    Zeichenpapier (A4).
    Bleistift.
    Radiergummi.
    Dünner, wasserfester Filzstift.
    Evtl. etwas Wasserfarbe oder Deckweiß.
    Dann will Chesterfield, dass ich aufschreibe, was ich unternehme, wenn mich die Inspiration verlässt. Ich sauge mir gehorsam einige Aktivitäten aus den Fingern, die mir passend erscheinen:
    Spazieren gehen.
    In Kunstbüchern blättern.
    Musik hören.
    Nun wünscht der Professor, mein »aktuelles« Skizzenbuch sehen zu dürfen, und er verschluckt sich fast, als ich ihm erkläre, dass ich kein Skizzenbuch habe und dass ich im Alter von zwölf aufgehört habe, täglich zu zeichnen.
    »Schauen Sie jetzt auf Ihre Liste«, sagt er mit erregter Stimme, als er sich von seiner Überraschung erholt hat. »Streichen Sie alles durch! Genau, streichen Sie alles mit kräftigen Strichen durch. Gut!«
    Meine nächste Aufgabe besteht darin, das genaue Gegenteil meiner momentanen Arbeitsmethoden aufzuschreiben. Ich umklammere den Bleistift so fest, dass mein Mittelfinger schmerzt.
    »Statt auf einem bescheidenen Zeichenblock sollen Sie Ihre Skizzen auf großen Bögen anfertigen. Gehen Sie dabei kühn und großzügig vor! Statt Bleistift können Sie dicke Kinderwachsmalkreiden verwenden. Oder eine Tuschfeder. Sie können auch in den Garten gehen und einen lehmigen Stecken holen. Versuchen Sie, Ihre Zeichnung in die Grundierung einzuarbeiten. Wagen Sie es, verrückt zu sein. So etwas kann Wunder wirken für die ach so wichtige Linienführung«, schlägt er vor.
    Gott im Himmel. Hilfe.
    »Maja.« Er klingt vorwurfsvoll. »Ich liefere Ihnen hier eine geraffte Version des sehr nützlichen Vorbereitungskurses. Mehrere Ihrer Mitstudenten haben daran teilgenommen. Er nennt sich ›Kreative Arbeitsmethoden‹. Deswegen kommt es Ihnen vielleicht so vor, als hätten die andern einen gewissen Vorsprung. Aber das können wir jetzt ändern, Sie und ich. Wenn Ihre Kunst mehr bieten soll, müssen Sie auch mehr von sich selbst hineinlegen. Es macht nichts, wenn es zu Anfang nicht gleich perfekt wird, denn nur so lernen wir etwas! Seien Sie nachsichtig mit sich selbst, Maja. Geben Sie sich hin, seien Sie nicht so zugeknöpft. Öffnen Sie sich dem Leben!«
    Gleich bittet er mich, meinen Pullover auszuziehen, meinen Busen in Farbe zu tauchen und an die weiße Wand zu drücken, denke ich und kann mir ein leicht spöttisches Grinsen nicht verkneifen.
    Ich weiß, dass Nikita diesen Mann vergöttert. Ich weiß, dass er in vielem, was er sagt, recht hat, vermutlich in weitaus mehr, als ich zugeben mag. Er ist ein angesehener Mann, eine Kapazität, warum also gelingt es mir nicht,

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