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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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mein Unbehagen, meinen Widerwillen abzuschütteln? Warum kommt er mir so unnatürlich vor? Als sei alles, was er sagt, nur eingeübt und abgedroschen?
    Die Tür zu dem roten Schlafzimmer gleitet etwas weiter auf. Eine fast unmerkliche, lautlose Bewegung, aber ich bin sicher, mich nicht zu täuschen. Chesterfield sitzt mit dem Rücken zur Tür, dennoch besteht kein Zweifel, und eine leise Ahnung überkommt mich. Kein Durchzug oder Haustier hat die Tür bewegt. Jemand steht dort drinnen und belauscht uns. Ich sitze ein paar Augenblicke reglos da und erwäge die Möglichkeit, dass jemand – die Ehefrau, eine Freundin, eine Putzhilfe? – die Tür öffnet, zum Vorschein kommt und Guten Tag sagt. Falls Chesterfield bemerkt hat, dass mein Blick unnatürlich lang an seiner Schlafzimmertür hängt, lässt er sich das allerdings nicht anmerken.
    Die Person dort drin atmet hörbar. Schwache, zarte Geräusche, aber meine Ohren haben keine Schwierigkeiten, das leise Hauchen wahrzunehmen. Dann öffnet sich die Tür noch einen Spalt. Ein weiteres Stück der weinroten Wand wird sichtbar und auch ein wenig mehr von dem breiten Goldrahmen. Ich bemerke, dass jemand ein Laken über das Gemälde gehängt hat. Die Leinwand ist vollkommen verdeckt.
    Die unsichtbare Gestalt im Schlafzimmer beginnt nun mit äußerst langsamen Bewegungen an dem Laken zu ziehen. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Geschieht das alles wirklich? Immerhin sehe ich es mit eigenen Augen. Im Schutz des Schattens hinter der halb geöffneten Tür versucht jemand, mir zu zeigen, was auf dem Gemälde ist. Das ist ein mühsames Unterfangen. Das Tuch scheint schwer zu sein wie eine Persenning, und die Gestalt dort drinnen hat offenbar nicht mehr viel Kraft. Ich registriere, dass der Atem keuchender wird, fast erregt, und dass sich Chesterfield irgendwo weit weg weiterhin über Materialien für Künstler und alternative Inspirationsquellen auslässt, als plötzlich die Abdeckung vom Gemälde fällt und die Tür mit einem Knall ganz aufspringt.
    Vor Schreck fliegt dem Professor sein Glas aus der Hand und in einem Bogen durchs Zimmer. Es geht nicht kaputt, aber der verschüttete Wein bildet ein fächerförmiges, schmutzig violettes Tropfenmuster auf dem weißen Teppich bis hin zur jetzt weit geöffneten Schlafzimmertür.
    Von dort drinnen schaut ein riesiger Akt aus einem Goldrahmen auf uns herab. Wir haben uns beide erhoben und nähern uns vorsichtig dem tiefroten Zimmer. Außer dem von Bücherstapeln umgebenen Doppelbett, dem zerknüllten Laken auf dem Fußboden und dem Gemälde an der Wand ist dort nicht viel zu sehen. Vor allen Dingen keine geheimnisvolle Gestalt mit keuchendem Atem.
    Ich fasse nach dem Türrahmen, um mich abzustützen. Bei dem Bild handelt es sich um ein Ölgemälde in warmen Farben, einen Akt, dessen eindrucksvolle Wirkung in erster Linie auf das überlebensgroße Format zurückzuführen ist. Die Farbe ist mit kräftigem Strich aufgetragen und regelrecht auf die Leinwand modelliert, vermutlich mit Hilfe irgendeines Werkzeugs. An mehreren Stellen scheint der Künstler die feuchte Farbe jedoch direkt mit den Fingern bearbeitet zu haben. Die Frau auf dem Gemälde sitzt ohne Scheu, fast aufreizend, mit gespreizten Beinen da. Die Brüste sind üppig, hängen jedoch schwer an dem sonnengebräunten Körper. Die Linienführung mutet beinahe kubistisch an und erinnert an die 1950er Jahre. Der Blick der Frau ist unnachgiebig, und wer für dieses erotische Werk Modell gesessen hat, ist unverkennbar: Nikita.
    »Mein Gott, bin ich erschrocken!«
    Professor Chesterfield muss sich an der Wand abstützen.
    »Diese alten Häuser … mit ihren verzogenen Türrahmen …«, fährt er fort, ohne den Satz zu beenden.
    »Ich auch«, sage ich. »Total erschrocken. Ich muss jetzt gehen. Vielen Dank für alles.«
    Er winkt matt zum Abschied, und ich sehe, wie er unter seiner Sonnenbräune erblasst ist. Ich packe meine Notizen zusammen und widerstehe dem Impuls, sein fallen gelassenes Weinglas wegzuräumen. Mit der Hand auf der Türklinke werde ich übermütig und kann mich nicht länger zurückhalten.
    »Ein sehr interessantes Gemälde. Vielen Dank, dass ich es sehen durfte. Aber irgendwie kommt mir das Modell bekannt vor.«
    Ich weiß, dass das ziemlich dreist ist, aber ich spüre das Adrenalin in meinen Adern, und aus irgendeinem Grund will ich sehen, wie er reagiert.
    »Ja, weiß Gott, sie hat Charakter«, sagt Chesterfield, ohne sich zu schämen. »Es ist im

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