Abschiedskuss
Augen, bevor ich die Kraft finde, langsam und mit leisen, unsicheren Schritten die Treppe hinunterzusteigen.
Ich merke nicht, dass ganz hinten im Foyer, hinter den Postfächern und dem Schwarzen Brett, in einer dunklen Ecke unterhalb der Treppe, jemand steht. Jemand, der schon recht lange dort gestanden hat.
11. Kapitel
Ich mag noch nicht zurück ins Wohnheim. Nicht auf direktem Weg. Ich kann nicht. Es ist, als würde gerade etwas in mir zerreißen.
Auf dem Gelände der Akademie hat die Luft, egal ob drinnen oder draußen, einen moderigen Geruch wie nach feuchter Rinde und bemoosten Mauern. Wie aus einer anderen Zeit. Ich widerstehe dem Impuls, mich auf eine kalte Bank sinken zu lassen und einfach dort sitzen zu bleiben. Stattdessen stelle ich den Kragen auf und klemme mein aufgerolltes Porträt unter den Arm.
Die schwere Tür schlägt hinter mir zu, und ich befinde mich im Zentrum von Oxford. Das grelle Licht der Straßenlaternen blendet beinahe. Ich weiß, dass die Geschäfte im Zentrum donnerstags auch am Abend geöffnet haben, und aus irgendeinem Grund verspüre ich das Bedürfnis, eine Weile in den warmen, hellen Geschäften zu flanieren und mir einzureden, dass all die Fremden in diesen Läden mir gar nicht so fremd sind. Dass auch ich eine Art Normalität erleben kann.
Die Bässe eines Popsongs dringen aus einer silbern dekorierten Boutique zu mir hinaus auf den Bürgersteig. Ich biege in eine breite Fußgängerzone ein, in der es von herausgeputzten Teenagern und Fastfood-Restaurants wimmelt. Ich verlasse sie, so schnell ich kann, und gerate in eine schmale Gasse mit hohen Fachwerkhäusern, einer Parfümerie, einem Eisenwarengeschäft und einer französischen Bäckerei. Hier war ich noch nie. Es ist eine Sackgasse.
Ganz am Ende befindet sich eine große Buchhandlung mit schwarz gestrichener Fassade und schönen kleinen Schaufenstern. Ich steige die drei Treppenstufen hinauf und öffne die Tür. Ein kleines Glöckchen bimmelt.
Ich bin in Aladins Schatzhöhle geraten.
Die Buchhandlung ist ein Labyrinth, das sich über vier Stockwerke erstreckt. Sie nimmt fast einen halben Häuserblock ein. Das Haus ist alt, und die Fußböden neigen sich in alle Richtungen. Man verliert vollkommen den Überblick. Ich verirre mich ins Kellergeschoss, gelange in eine Abteilung über Biochemie, die so groß ist wie ein Eishockeyfeld, und stolpere beinahe in einen kleinen Vortrag. Ein gutaussehender junger Geistlicher liest etwa zehn Zuhörern auf Klappstühlen aus seinem Buch vor.
Schließlich zeigt mir eine freundliche Seele einen Informationstresen, der sich in einer Nische hinter grünen Palmen und Lesesesseln verbirgt. Dort beschaffe ich mir einen Übersichtsplan. Ich entdecke eine Hintertreppe, über die ich in die Abteilung für Musik und Kriminalromane gelange, wo es auch Kaffee gibt.
Hier ist die Stimmung lockerer. An den Wänden hängt Pop-Art, eine Espressomaschine zischt. Ein alter Song rieselt aus versteckten Lautsprechern.
»Borderline … feels like I’m goin’ to loose my mind. You just keep on pushin’ my love over the borderline.«
Unterhaltungen, Stühlerücken und das Rascheln von Zeitungen aus dem Café. Ich werde von dem wunderbaren Duft nach Kaffee und Toasted Sandwiches angezogen. Plötzlich bin ich vor Hunger ganz zittrig. Ich möchte etwas essen. Möchte auch dort sitzen. Warum sollte ich nicht? Wie jeder andere auch.
Ich stehe vor einem blankgeputzten Kühltresen und frage mich, mit was die verpackten Brote belegt sind. Plötzlich trifft mich ein scharfer Blick, der sich im Chrom des Tresens spiegelt. Ein kritischer, wütender und wohlbekannter Blick, der in mir nur einen Wunsch auslöst: davonzustürzen, mich auf der Kundentoilette zu verstecken und so zu tun, als hätten wir uns nicht gesehen. Aber wir haben uns gesehen! Der Blick sagt Dinge wie: »Was für Preise!« Und: »Aha, willst du schon wieder etwas essen?«
Mama.
Ich fühle mich schwach, und mir wird ganz weich in den Knien. Es kommt mir vor, als würde mein Mantel mehrere hundert Kilo wiegen. Als könnte der Druck auf meinen Schultern meine Füße durch den Fußboden rammen. Das Klappern der Kaffeetassen und die Musik um mich herum sind verstummt. Aber sie ist noch da. Und dennoch kann sie es unmöglich sein.
Zum dritten Mal an diesem Tag landet mein Selbstporträt auf dem Fußboden. Ich bücke mich, taste mit den Händen, bekomme die Kante des Kühltresens zu fassen und halte mich fest. Kühl, hart, angenehm. Der Tresen
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