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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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Sommer entstanden. Wir hatten kein Aktmodell, und so erbot sich Nikita, die damit Erfahrung hat, für den Kurs Modell zu stehen. Ich habe es nach einer Reihe rascher Skizzen gemalt. Sie hasst es, aber ich finde es bezaubernd. Es passiert nur noch selten, dass ich Lust verspüre, mich selbst hinter die Staffelei zu stellen. Meine Tochter hasst es übrigens auch, deswegen das Laken. Im Augenblick ist das ihr Schlafzimmer.«
    Der Ausdruck seiner Augen wird sanfter, als er seine Tochter erwähnt, und ich spüre eine Anwandlung von Sympathie.
    »Um ehrlich zu sein, ist es nicht unbedingt das, was ich mir in meinem Schlafzimmer an die Wand hängen würde«, sage ich. »Arbeitet Ihre Tochter auch hier im Institut?«
    Überraschenderweise freut sich Chesterfield über mein Interesse.
    »Nein, nein, Arabella schließt dieses Jahr ihr Studium ab. Skulpturen, Installationen, Objets trouvés. Sie verbringt viel mehr Zeit als ich innerhalb dieser Mauern – viel zu viel Zeit, wenn Sie mich fragen –, es ist also mehr als recht, dass sie hier einen Schlafplatz hat. Ich fahre gerne mit dem Fahrrad nach Hause in unser kleines Haus am Kanal in Jericho. Also bis bald dann. Wiedersehen.«
    Auf dem Weg hinunter durch das prächtige, dämmrige Treppenhaus begegne ich einer kleinen jungen Frau in Weiß. Es dauert einige Sekunden, bis ich begreife, wer es ist. Als ich sie wiedererkenne, beginnt mein Herz so fest zu schlagen, dass es weh tut. Es flattert regelrecht, wirft sich wie ein in Panik geratener, kleiner Vogel gegen meinen Brustkorb. Ich stelle mich der Frau in den Weg und will etwas sagen. Aber es schnürt mir die Kehle zu.
    »Hallo … Arabella«, stoße ich hervor, und meine Stimme ist nur ein Flüstern zwischen den Mauern.
    »Hallo … Maja?«, sagt sie und bleibt stehen. Ihr unergründlicher Blick lodert wie Feuer. »Warst du oben bei Papa?«, fragt sie. Ich spüre die Anspannung hinter dieser schlichten Frage, ihre Stimme bebt beinahe.
    Ich komme allerdings nicht dazu, ihr zu antworten. Arabella trägt zwei Schaufensterpuppenarme, und als sie sich beiseitedreht, um mir und meinem aufgerollten Selbstporträt Platz zu machen, rutscht ihr einer hinunter. Steif, wie er ist, fällt er klappernd fast einen ganzen Treppenabsatz nach unten, und ich meine zu hören, dass sie einen kleinen Schluchzer ausstößt. Ich eile dem Arm hinterher. Als ich mich vorbeuge, um ihn aufzuheben, fällt die Hand ab.
    »Oh, Entschuldigung«, sage ich und hebe die Hand auf. Eine große Schraube ragt aus dem Handgelenk. Warum habe ich Entschuldigung gesagt?
    »Die war schon vorher lose, kein Problem«, sagt Arabella. Ich steige die zwölf Stufen zu dem Treppenabsatz hinauf, auf dem sie stehengeblieben ist.
    »Danke.«
    »Sie hat vermutlich ein paar Kratzer abgekriegt. Soll ich dir tragen helfen?«, frage ich, obwohl ich eigentlich nur noch das Bedürfnis habe, so schnell wie möglich an die frische Luft zu kommen. Mein Puls dröhnt mir in den Ohren. So aus der Nähe hat sie eine überwältigende Ausstrahlung, sie ist schön wie eine Ikone. Als würde man direkt in eine matte Sonne blicken. Aber ich sehe auch, dass sie vollkommen erschöpft wirkt. Ihre Augen sind von gelbbraunen Ringen umrahmt, die aussehen wie alte Blutergüsse. Mich überläuft ein Schauer, und ich wende den Blick ab.
    »Danke, aber ich muss ja nur dort hinauf«, sagt sie und drückt den Ellbogen an den Körper, als ich ihr den steifen Puppenarm darunter schiebe.
    »Kannst du mir die Hand doch besser in die Tasche stecken?«, bittet sie. Ich verstaue sie in ihrer Jackentasche, und die steifen Finger ragen wie die Äste eines kleinen toten Baumes heraus. Als ich Arabella dabei berühre, spüre ich, dass sie ganz leicht zittert. Wir zucken beide zusammen, als weiter oben eine Tür aufgerissen wird. Professor Chesterfields Stimme ertönt über uns.
    »Arabella? Bist du das?«
    Ich bilde mir ein, dass sie verschreckt klingt, als sie antwortet. Irgendetwas stimmt da nicht.
    »Ja, Papa. Ich bin es. Und … Maja.«
    Dann lächelt sie mich traurig an, schleppt sich weiter die Treppe hinauf, und ihre Schaufensterpuppenglieder ragen in alle Richtungen.
    Ich bleibe noch einen Augenblick stehen, nachdem sie Chesterfields Stockwerk erreicht und die Tür hinter sich zugezogen hat. Ich muss mich erst sammeln. Vorsichtig stelle ich meinen aufgerollten Papierbogen neben mir auf den Treppenabsatz und halte mich mit beiden Händen an dem glatten Geländer fest. Ich schließe ein paar Sekunden lang die

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