Abschiedskuss
ist hier. Die belegten Brote vor mir sind hier. Ich bin hier. Und der Maiglöckchenduft ist es auch.
Kann ich aufstehen? Ja. Ich kann.
Au!
Ein weicher, aber energischer Stoß in meine Kniekehlen. Ich wanke. Das hat sie manchmal getan, als ich klein war, vielleicht fand sie das lustig. Sie stieß mir vorsichtig mit ihren Knien in die Kniekehlen, wenn ich in Gedanken versunken, mit durchgestreckten Beinen, den Blick in die Ferne gerichtet, dastand.
Ich lasse den Tresen los und sehe mich benommen um. Der Blumenduft ist noch da, sie aber nicht. Niemand im Café scheint mich zu beobachten oder der Auffassung zu sein, dass ich mich seltsam benehme. Ich hole tief Luft und fühle mich wie berauscht, als das sauerstoffreiche Blut durch meine Adern strömt. Ich habe den herben Duft des Parfüms in der Nase. Vorsichtig wage ich einen Schritt. Ja, meine Beine tragen mich. Ich bin noch nicht ganz bei mir, aber ich versuche dennoch, mich einigermaßen zu orientieren. Mein Blick irrt herum, und plötzlich entdecke ich sie. Der schmale Rücken einer Frau mittleren Alters, der auf die Abteilung für Kriminalromane zusteuert.
Ich sehe das Buch sofort, als ich ihr folge und plötzlich vor dem Regal mit True Crime stehe. Verbrechen, die wirklich geschehen sind. Ein ziemlich gewöhnlicher Einband. Mitternachtsblau mit gelbem Titel. Er ragt ein gutes Stück aus dem Regal heraus, so weit, dass er fast herauszufallen droht. Ich schnuppere. Frischgebackenes Brot, neue Bücher und eine schwache Wolke Maiglöckchenduft, die sich wie ein leises Flüstern rasch verflüchtigt.
Mein Puls hat sich beruhigt, und ich streiche mir mit den Händen übers Gesicht und übers Haar. Mechanisch schiebe ich ein paar lose Strähnen hinter die Ohren. Dann schlucke ich und trete einen Schritt vor. Auf der Hut, als hätte das Buch einen eigenen Willen. Es bewegt sich. Nur ein wenig, aber dennoch. Ich stürze nach vorn und fange es in dem Moment auf, als es aus dem Regal kippt.
Das Buch heißt »Real Oxford Mysteries«, Wahre Kriminalgeschichten aus Oxford. Ich presse es an die Brust und spüre, wie die Luft stockend aus meinen Lungen entweicht.
Ich nehme das Buch mit, werfe aber erst einen Blick hinein, als ich mich an eines der Cafétischchen gesetzt, einen schaumigen Cappuccino vor mir stehen und von einem Toasted Cheesesandwich abgebissen habe. Andere Kunden haben ebenfalls Bücher und Zeitschriften aus der Buchhandlung mitgenommen, in denen sie bei einer Tasse Kaffee blättern. Das scheint hier üblich zu sein.
Das Buch schlägt dort auf, wo es aufschlagen soll, was mich nicht weiter erstaunt. Das Kapitel heißt: »Das Massaker im Mill Creek Manor«. Die Seite besteht größtenteils aus einer Schwarzweißaufnahme von vier Mädchen. Ein Amateurfoto, aber nicht schlecht. Drei von ihnen haben riesige hochtoupierte Frisuren, eine trägt ein zu großes Herrenhemd und viele schmale Gummiarmbänder am Handgelenk. Alle lächeln lieb in die Kamera. So lebendig, so fröhlich. So jung. Die Bildunterschrift lautet:
»Mary Johnson, Harriet Stevens, Joanna Oakley und Emma Isherwood. Opfer des Massakers von Mill Creek Manor, 1984.«
Ich beginne unkontrolliert zu zittern. Vier Mädchen. Ein festgehaltener Augenblick. Die Gruppe sitzt vor einem Wandausschnitt, der mir bekannt vorkommt. Ich halte das Buch in die Höhe. Es ist bleischwer. Der Cappuccino wird kalt. Ja. Wie ich gedacht habe. Das Foto ist in der Bar des Wohnheims aufgenommen worden. Ich erkenne die Ecke eines Fensterrahmens, und obwohl das Foto recht grobkörnig ist, sieht man ein Stück der Lichterkette, die heute noch dort hängt. Glühlampen, die von einem biegsamen Schlauch umschlossen werden.
Als ich wieder ins Freie trete, nieselt es leicht. Die Feuchtigkeit legt sich auf mein Gesicht wie warmer Rauch. Die Geschäfte löschen die Beleuchtung, und die abendlichen Flaneure ziehen weiter in Pubs und Restaurants oder wie ich nach Hause. Ich fühle mich etwas benommen, aber es ist nicht so schlimm. Ich traue mir durchaus zu, Straßen und Plätze zu überqueren, ohne mit Leuten zusammenzustoßen oder vor einen der vielen Fahrradfahrer zu geraten.
Im großen Gemeinschaftsraum des Mill Creek Manor lodert ein Kaminfeuer. Niemand ist dort, und ich trete rasch ein, stelle mich dicht vor den Funkenschutz. Die Hitze prallt an meine Beine, dort wo mein Mantel endet. Die Haut meiner Wangen spannt und rötet sich, aber ich nehme es kaum wahr. Eine lähmende Kälte scheint von innen her von mir Besitz ergriffen
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