Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
Vom Netzwerk:
Grüntöne in diesem Kasten. Warum hatte ich das eigentlich vergessen?
    Alle Studenten des Instituts haben Zugang zu einem Unterrichtsraum, in dem sie abends arbeiten können. Trotzdem arbeiten die meisten verständlicherweise lieber zu Hause. Große Papierbögen und Leinwände lassen sich bei Wind nicht so leicht hin- und herschleppen, und ich habe unterschätzt, was dieses sperrige Material tatsächlich wiegt. Aber um Nikita etwas Freiraum in unserem gemeinsamen Zimmer zu gewähren, habe ich mich entschlossen, an unserer nächsten Aufgabe im Zeichensaal zu arbeiten.
    Buchillustration wird in einem Raum unterrichtet, der eigentlich aus zwei schmalen, langen Sälen besteht, die im rechten Winkel zueinander liegen. Die vielen hohen Fenster sorgen tagsüber für perfekte Lichtverhältnisse. An einer der Schmalseiten befinden sich Regale mit Schließfächern, in denen man seine Werke verwahren kann. Leider sind diese Fächer nicht sonderlich geräumig, größere Arbeiten muss man mit nach Hause nehmen, wenn man sie geschützt aufbewahren möchte.
    Einige unverschlossene Blechschränke neben dem Whiteboard enthalten einfacheres Material, das man benutzen kann und das die Dozenten manchmal bei vorlesungsbegleitenden Übungen verwenden. Hauptsächlich handelt es sich um Faserschreiber in Rot, Blau und Grün, eine Handvoll Bleistifte, Schmierpapier, Tusche, verschieden breite Kunsthaarpinsel, eine Schachtel krümelige Kreidestummel und einige Farbkästen mit billigen Wasserfarben in großen Näpfen, keine hochwertigen, teuren Materialien. Neben den Blechschränken befinden sich zwei verkleckste Spülbecken sowie ein ziemlich moderner Kaffeeautomat, der auch Kakao und Suppe zu bieten hat, alles für zehn Pence den Becher. Darüber hinaus stehen uns ein schmutziger Leuchttisch und etwa dreißig ramponierte, aber stabile Arbeitsbänke mit dazugehörigen Stühlen zur Verfügung, die in beiden Räumen verteilt sind – und zwar oft anders, als wir sie zurückgelassen haben, da wir nicht der einzige Kurs sind, der den Zeichensaal benutzt.
    Wenn Orte, an denen tagsüber reger Betrieb herrscht und viele Menschen tätig sind, leer und still werden, geschieht etwas. Eine Energie, gewisse Schwingungen bleiben zurück, aber auf einer anderen Frequenz, ruhiger. Das gefällt mir. Schatten kriechen aus den Ecken hervor und erstrecken sich über den Linoleumfußboden. Die Neonröhren verwandeln die nächtlich dunklen Fenster in große Spiegel. Es ist aufregend, durch den Saal zu schlendern und nach Spuren von Studenten anderer Kurse Ausschau zu halten, bevor ich mich auf meine eigene Aufgabe konzentriere. Diese Woche sollen wir einen Zeitungsartikel über Autismus illustrieren, den Chesterfield an alle ausgeteilt hat.
    Ich gehe im Saal herum und bewundere einen mit Tesafilm an die Wand geklebten Siebdruck – stilisierte Bäume. Er würde ein hübsches Stoffmuster abgeben. Ich sehe die nicht fortgeräumten Reste einer Arbeit aus Pappmaché. In Streifen gerissenes Zeitungspapier, Stücke feinen Maschendrahts und eine offene Kneifzange. Unter sechs zusammengeschobenen Tischen liegen ein paar Fetzen buntes Moosgummi, und es riecht so stark nach Klebstoff, dass mir schwindlig wird. Ich gehe in die Hocke und stochere mit dem Zeigefinger in den Resten. Einige mühsam ausgeschnittene und dann für zu schlecht befundene Stücke haben die Form kleiner Fische und Seesterne. Die Studenten des Bilderbuchkurses haben offenbar die Aufgabe, Bücher anzufertigen, die Kleinkinder in die Badewanne mitnehmen können. Ich nehme einen rosa Fisch und einen hellblauen Seestern in die Hand, der getrocknete Klebstoff auf der Rückseite ist ein wenig bröselig. Ohne weiter darüber nachzudenken, stecke ich die Gummistücke in die Tasche. Sie sind wirklich hübsch. Aber bevor ich sie einstecke, sehe ich mich um – ein sinnloser Reflex. Denn selbst wenn draußen in der Oktoberdunkelheit tatsächlich jemand stehen und mich in dem hell erleuchteten Saal beobachten würde, könnte ich ihn doch nicht sehen.
    Da ich drei Abende hintereinander im Zeichensaal allein war, habe ich beinahe angefangen, ihn als mein privates Territorium zu betrachten. Doch plötzlich höre ich, wie sich draußen schlurfende Schritte nähern und jemand mit harten Bewegungen den Türcode eingibt. Als sich die schwere Brandschutztür öffnet und Jack Winter schnaufend den Raum betritt, verschlucke ich mich vor Schreck an meinem Kakao.
    Ich huste in die Armbeuge, dann habe ich es eilig, meine

Weitere Kostenlose Bücher