Abschiedskuss
zu haben. Mit starren Fingern ziehe ich die Handschuhe aus. Ich weiß nicht, ob ich schon in der Verfassung bin, ins Zimmer hinaufzugehen und Nikita zu begegnen. Der aufreizenden Nikita mit den runden Brüsten und … Verdammt. Irgendwie komme ich mir von ihr verraten vor. Auf dem Weg zum Zimmer starre ich geradeaus und vermeide es, einen Blick in die Bar zu werfen. Ich weiß, dass ich dort nur Schatten leblos lächelnder Gesichter sehen würde. Vier junge Frauen, die dort zusammensaßen und sich fotografieren ließen, als sie noch am Leben waren.
Im warmen Licht der Schreibtischlampe fertigt Nikita einige Skizzen an. Sie arbeitet mit rotbraunen Wachsmalkreiden auf brauner Pappe.
»Schön, auf diese Idee wäre ich nie gekommen«, sage ich eine Spur zu herzlich und ziehe den Mantel aus.
Sie wirft mir einen raschen Blick zu und lächelt flüchtig. Ich sehe, dass sie verlegen ist. Es ist nicht leicht, ungestört zu arbeiten und kreativ zu sein, wenn man so wohnt wie wir.
»Ich will dich nicht lange aufhalten«, sage ich, »aber ich muss dich etwas fragen. Verzeih mir, aber ich habe ein paar Gläser getrunken.«
»Gott, ja, Chesterfield!«, ruft Nikita. »Erzähl, erzähl, erzähl. Was wollte Leo? Hatte er guten Wein? Er wird dich doch wohl nicht rausgeworfen haben?« Sie zwinkert, ein Scherz.
»Nein, aber ich muss mich mehr anstrengen«, sage ich, und in diesem Augenblick begreife ich, dass das die Wahrheit ist. »Aber du. Ich wusste nicht, dass du und er … ich meine, das Gemälde. Das Gemälde, Nikita! Verdammt, was für ein Gemälde!«
»Gefällt es dir?«, fragt sie und wirft mir einen treuherzigen Blick zu.
»Schon, aber nicht so sehr wie ihm«, stottere ich. »Ihr zwei … seid ihr … habt ihr …?«
»Nein. Das wäre ja unmoralisch, vielleicht sogar ungesetzlich. Der Lehrer und sein Schüler. Aber zwischen uns knistert es, das muss ich zugeben. Die Chemie stimmt. Das hast du vermutlich bereits gemerkt, oder?«
Ich murmele ein paar zustimmende Worte. Sie fährt fort:
»Letzten Sommer sind wir uns ziemlich nahegekommen. Ich habe einen ganz schönen Schock bekommen, als ich das Gemälde gesehen habe, aber um ehrlich zu sein, war ich auch ein bisschen geschmeichelt. Obwohl ich natürlich nicht so eine sein will, die immer gleich … na ja, du weißt schon.«
»Ja, klar, verstehe«, sage ich und tätschele ihr kameradschaftlich den Arm. Ich gebe mir Mühe, aufrichtig zu klingen. Ich möchte nicht, dass sie denkt, sie habe in meinen Augen etwas falsch gemacht oder zwischen uns habe sich etwas verändert. Aber vielleicht hat es das ja.
Nikita ist verlegen und nagt einen Hautfetzen von ihrem kleinen Finger.
»Noch etwas, Maja. Du hast nicht zufällig Kleider von mir geliehen oder so?«
»Nein. Bestimmt nicht. Das würde ich nie wagen, ohne dich vorher zu fragen«, antworte ich verständnislos.
»Okay«, sagt Nikita und sieht plötzlich auf ihrem Stuhl sehr klein und verletzlich aus. »Dann weiß ich Bescheid. Das ist wirklich etwas unheimlich. Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, es war jemand hier drin, in unserem Zimmer, und hat in meiner Schublade mit der Unterwäsche gewühlt.«
12. Kapitel
»Es ist aufschlussreich, mit Ihnen sprechen zu können, und zwar von Angesicht zu Angesicht. Sehr aufschlussreich.« Die Worte lassen mir keine Ruhe. Während ich durch die schief gepflasterten Gassen Oxfords unterwegs zu ein paar abendlichen, einsamen Übungsstunden im Institut bin, rufe ich mir das Bild Inspektor Kings in Erinnerung. Seinen rücksichtsvollen Blick, die dunkle Haut, den erstklassig sitzenden Anzug. Seine ergebnislosen Ermittlungen. Aber stimmt das? Ist es immer noch so? Ich werde von dem drängenden Bedürfnis ergriffen, ihn anzurufen, wie ein Kind, das von plötzlichem Heimweh erfüllt ist. Vielleicht sollte ich ihn erneut aufsuchen? Soll ich? Soll ich wieder nach Brighton? Von Angesicht zu Angesicht?
Als ich den Türcode zum Seminarraum eingebe, flimmert vor meinem inneren Auge ein Bild des Blutflecks auf dem Pier vorbei. Mamas Blut. Ich verdränge es. Nicht jetzt, bitte! Ich muss arbeiten. Das ist dir doch wohl klar, Mama? Du warst doch so stolz darauf, dass ich gut malen kann, das weiß ich, obwohl du es nie richtig in Worte gefasst hast. Du hast mir damals diese Blechschachtel mit den teuren Buntstiften geschenkt, die man mit Wasser übermalen konnte, so dass es fast aussah wie Aquarellfarbe. Das warst doch du! Als ich in die dritte Klasse ging. Es gab fünf verschiedene
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