Abschiedskuss
peinlich dürftigen Skizzen zusammenzuraffen und neben mir aufeinanderzustapeln, damit er sie nicht sehen kann. Für den Fall, dass er auf die Idee kommt, zu mir herüberzuschlendern, Hallo zu sagen und sich eine Weile mit mir zu unterhalten. Während ich das tue, komme ich mir plötzlich sehr dumm vor. Wie eine wichtigtuerische Drittklässlerin, die ihre Nachbarin nicht abschreiben lassen will. Ich hätte mir aber keine Sorgen zu machen brauchen. Jack Winter zeigt keinerlei Interesse an mir und meinen schlechten Arbeiten. Er hebt lustlos einen Arm zum Gruß, macht jedoch keine Anstalten, zu der Bank herüberzukommen, an der ich sitze und so tue, als würde ich zeichnen. Stattdessen scheint er nach etwas zu suchen. Ich versuche so auszusehen, als sei ich in meine Aufgabe vertieft, doch als ich verstohlen zu ihm hinüberschaue, sehe ich, dass er auf seine knochigen Knie sinkt und über den Fußboden späht. Dann beginnt er in den Materialschränken herumzukramen und den großen Papierkorb neben den Spülen zu durchwühlen.
Ich räuspere mich und sage:
»Die Putzfrau war bereits hier.«
Aber meine Stimme ist schwach, weil ich so gehustet habe. Vielleicht hat es auch andere Gründe.
Verrückt.
Welchen Grund habe ich, nervös zu sein?
Ich erhebe mich, um zu ihm zu gehen. Als mein Stuhl über den Boden schrammt, dreht er sich um.
»Die Putzfrau war bereits hier«, wiederhole ich, dieses Mal mit mehr Nachdruck. Meine Stimme überschlägt sich am Schluss ganz leicht, aber ich glaube nicht, dass er das merkt.
»Sie hat die Mülltüte gewechselt«, fahre ich fort. »Suchst du was Bestimmtes? Kann ich dir … vielleicht helfen?«
Jack streicht an mir vorbei, ohne mir ins Gesicht zu sehen. Dann geht er um meine Bank herum. Er zittert leicht in seinem alten Jackett, aber er gibt sich alle Mühe, das zu verbergen und mir gegenüber entspannt zu wirken. Er trägt Handschuhe mit abgeschnittenen Fingerspitzen wie ein Markthändler. Als er merkt, dass ich auf seine Handschuhe schaue, steckt er die Hände in die Hosentaschen. Aus seinem Blick spricht milde Verachtung, zumindest empfinde ich das so.
»Wie läuft es?«, fragt er mit träger Stimme. Aber noch ehe ich etwas sagen kann, antwortet er ironisch auf seine eigene Frage:
»Gut, sehr gut. Alle hübschen Mädchen bekommen von Professor Chesterfield gute Noten.«
»Du klingst ganz schön verbittert«, sage ich mit einem überlegenen Lachen und staune selbst darüber. Dass ich das wage. Jack sieht einen Augenblick ganz baff aus, dann fängt er sich, nimmt die Ecke einer meiner umgekehrt daliegenden Skizzen mit zwei Fingern und hält sie ins Licht.
»Ich war zu vorschnell«, sagt er. »Das hier kann nicht einmal dein hübsches Gesicht retten.«
Ich beginne lauthals zu lachen. Jack sieht vollkommen verdattert aus, und ich bin ebenfalls verdattert, aber er sieht einfach fürchterlich altklug und komisch aus, wie er so dasteht, mit einer meiner lausigen Zeichnungen zwischen Daumen und Zeigefinger. Angewidert und verärgert wie ein prüder Vater, der ein Kondom im Papierkorb seiner Teenager-Tochter gefunden hat. Ein gebrauchtes. Bei diesem Gedanken kann ich nicht mehr an mich halten. Ich lache so, dass ich Bauchschmerzen bekomme und mir die Tränen in die Augen treten. Ich glaube, ich klopfe mir sogar auf die Schenkel.
»Du hast recht«, stoße ich schließlich japsend zwischen zwei Kicherattacken hervor. »Du hast ganz recht. Nichts kann mich mehr retten. Schau dir das mal an!«
Ich halte eine andere Skizze in die Höhe, die ich mit einem großen, enttäuschten Kreuz durchgestrichen habe. Eine meiner Ideen war nämlich, die Autorin des Artikels zu zeichnen, eine Autistin, die ein Buch über ihre Kindheit und Jugend geschrieben hat. Die Umsetzung erwies sich jedoch als schwierig, weil aus dem Artikel nicht hervorgeht, wie sie aussieht. Also hatte ich versucht, mich an der Beschreibung ihrer Gefühle der Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit zu orientieren. Selbst ihre eigene Familie war ihr fremd. Ein weiteres Merkmal war ihre Fixierung auf einen bestimmten Hut. Auf meiner Skizze sieht sie aus wie ein kleiner, o-beiniger Cowboy mit einem enormen Stetson auf dem Kopf, allein in einer Ecke eines riesigen Fußballplatzes.
Ich sehe, dass Jack Winters Mundwinkel zuckt.
»Hm … eine ausgezeichnete … Komposition«, sagt er schließlich. Sein unrasiertes Kinn bebt, denn er muss ein Lachen unterdrücken. Dann fragt er: »Hast du … noch mehr?«
Ich halte eine weitere
Weitere Kostenlose Bücher