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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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Gleichzeitig verspüre ich jedoch noch etwas anderes: Trauer.
    Ich merke erst, dass sich ein Angestellter nähert, als er direkt neben mir steht.
    »Miss, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt er in freundlich-aufforderndem Ton. Ich konzentriere meine gesamte Kraft darauf, zu ihm aufzusehen, lächele so entwaffnend wie möglich und lasse die Tüte mit den Kunstkarten, die ich gerade gekauft habe, vor seinem Gesicht baumeln. Aber meine Mundwinkel zittern. Ich presse meine Kiefer so fest zusammen, dass es knirscht. In meinem Mund breitet sich ein metallischer Geschmack aus.
    »Alles in Ordnung. Ich freue mich, dass ich endlich das hier gefunden habe!«, zwitschere ich und nehme irgendein beliebiges Buch aus dem Regal.
    »›In Cold Blood‹, das soll wirklich super sein«, sage ich und versuche, ihm zuzuzwinkern. Es wird mehr ein spastisches Zucken daraus.
    »Okay. Na dann viel Spaß damit«, sagt der Angestellte, salutiert scherzend und schlendert spürbar erleichtert davon. »In Cold Blood« rutscht aus meiner kraftlosen Hand und auf den Teppichboden des Geschäfts.
    Jedes Härchen meines Körpers sträubt sich, und ich zittere unkontrolliert, als hätte ich Schüttelfrost. Ich kann kaum noch schlucken. Ich lecke mir über die Lippen und drücke meinen feuchten Mund auf den Handrücken. Er zittert so stark, dass ich das Handgelenk mit der anderen Hand umklammere, aus Angst, mir sonst die eigenen Zähne einzuschlagen. Ich blute aus dem Mund. Rostrotes Blut bildet einen unförmigen Fleck auf meiner Hand. Die Haut ist milchweiß und sieht neben dem Rotbraun fast durchsichtig aus. Einzelne Venen schimmern wie grüne Schnüre darunter hervor. Solche Hände hatte ich nicht, als ich klein war. Es sind Mamas Hände.
    Dann schließe ich die Augen und trete wieder einen Schritt auf das Regal zu. Einen lang ausholenden, unwirklich schweren Schritt. Ich muss noch einmal nachsehen. Vielleicht habe ich mich ja geirrt. Es scheint mir fast unmöglich. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um auf das Regal schauen zu können.
    Doch. Die winzige Schrift ist noch da. Ordentliche kleine Druckbuchstaben mit einem dünnen schwarzen Filzstift direkt auf das Furnier geschrieben, dort, wo das Buch gestanden hat. Eine wohlbekannte Handschrift. Die I-Pünktchen sind kleine Herzen, wie manche Teenager das mögen. Sie hat das manchmal im Scherz gemacht, wenn sie kurze Nachrichten schrieb oder Namenszettelchen für die Weihnachtsgeschenke. Ein Herz über dem j in Maja.
    Es flimmert vor meinen Augen, als ich den Text lese. Ich streichle über das Regal. Graffiti. Nur ein Satz auf Schwedisch. Der Feind ist mitten unter uns.
    Alle Konturen um mich herum in der Buchhandlung verschwimmen auf einmal, werden unscharf. Und dann blitzt plötzlich eine Erinnerung auf, die lange im Keller meines Unterbewusstseins vor sich hin gedämmert hat. Mama und ich.
    Während einer Zeitspanne, die ich als kurz in Erinnerung habe – ein Winter vielleicht –, die sich aber, wenn ich darüber nachdenke, über ein Jahr erstreckt haben muss, hatte sie diese Anwandlungen, abends in mein kleines Zimmer zu kommen. Dann kroch sie mit einem Kinderbuch zu mir unter die Decke und wollte vorlesen. Ich musste mich seitlich gegen die Wand drücken, damit sie genügend Platz hatte, Mama war zwar nicht groß, aber mein Kinderbett war eben ziemlich klein. Das machte mir nichts aus, denn wir hatten es gemütlich. Ungewohnt gemütlich und lustig unter der Decke. Sie suchte die Bücher aus. Nach welchen Kriterien weiß ich nicht. Meine Meinung war nicht gefragt. Aber auch das machte mir nichts aus. Ich lag einfach da, vergrub die Nase in ihrem nach Maiglöckchen duftenden Pullover, lauschte ihrer überraschend guten Vorlesestimme und fühlte mich wohl. Astrid Lindgren, Eva Ibbotson, »Tom Sawyer« und »Huckleberry Finn«. Wir wussten eigentlich beide, dass es sich nur um eine vorübergehende Laune ihrerseits handelte, nichts, was zur Gewohnheit werden würde oder unser sporadisches Zusammensein dauerhaft verlängern könnte. Es war nicht der Normalzustand.
    Ich bin mit einer Mutter aufgewachsen, die normalerweise abwesend war, auch dann, wenn wir uns im selben Zimmer aufhielten. Bestenfalls war sie still und verträumt, aber das kam selten vor. Schlimmstenfalls umgab sie eine abweisende Mauer aus Aggressivität und plötzlich aufwallender Wut, die ohne Vorwarnung aus ihr hervorbrach, tagelang anhielt und eine Spur aus zerschlagenem Nippes, Tränen und rotzgetränkten Küchentüchern

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