Abschiedskuss
durchgestrichene Cowboy-Frau in die Höhe, die einen Hut mit Gesicht trägt. Über der Krempe lächelt ein Mund, und der Hut hat Augen mit langen Wimpern wie eine Puppe. Dieses Mal ist Jack nicht belustigt.
»Gute Idee. Du musst noch etwas an der Umsetzung arbeiten«, sagt er ernst und verschränkt die Arme. Mein nervöses Kichern endet abrupt.
»Meinst du?«, frage ich.
»Ja. Ein gelungener Anthropomorphismus«, sagt er.
»Wie bitte?«, erwidere ich.
»Wenn man etwas Nichtmenschlichem menschliche Eigenschaften verleiht, du weißt schon. Das Kaninchen in Alice im Wunderland. Und dergleichen.«
»Anthro … aha, okay, heißt das so? Jetzt habe ich etwas dazugelernt«, erwidere ich.
»Gut. Schau dir das mal an«, sagt Jack und zieht einen kleinen schwarzen Zeichenblock aus seiner Innentasche. Er blättert, bis er die richtige Skizze gefunden hat. Er zeigt mir seine Zeichnung und beobachtet, wie ich mit einem leisen Pfeifen ausatme, während ich sie betrachte. Jack hat ebenfalls eine Frau mit einem sprechenden Hut gezeichnet, aber im Profil und nur als Ausschnitt. Kinn und Hals der Frau sind nicht mit auf dem Bild. Das Gesicht des Hutes wirkt bedeutend lebendiger als das der Frau, als habe der Hut das Sagen. Sie haben Augenkontakt, und man kann sich vorstellen, dass der Hut und die Frau sich mögen. Die stilisierten Formen erinnern mich an die oft in Collagetechnik ausgeführten Illustrationen osteuropäischer Kinderbücher der 1970er Jahre, die ich in der Bücherei entdeckte, als ich klein war, und die ich faszinierend, aber auch etwas furchteinflößend fand.
Ich bin vollkommen baff. Dieselbe obskure Idee, die ich hatte, wirkt bei Jacks Entwurf anschaulich und plastisch, und obwohl es sich nur um eine rasche Bleistiftskizze handelt, fängt die Illustration die Quintessenz des Artikels tiefsinnig und fantasievoll ein. Das Bild ließe sich, so wie es ist, in jeder Zeitung drucken.
»Ich denke mir die Farbskala recht begrenzt. Schokoladenbraun, Weiß und Rosa«, sagt Jack. »Der Hut rosa mit rosigen Wangen, aber das Gesicht der Frau ganz weiß. Was meinst du?«
Seine eigenen Wangen sind vor Begeisterung gerötet.
»Ich glaube, das wird sehr gut. Eine begrenzte Farbskala passt zu diesem Retro-Look«, bestärke ich ihn und füge hinzu: »Lustig, dass wir denselben Gedanken hatten. Wie heißt es gleich: Great minds think alike?«
»Genau«, erwidert Jack und verzieht seinen großen Mund. »Oder: Fools never differ.«
Dann streift er meine Hand. Es ist nur eine flüchtige Berührung mit dem Daumen, beiläufig, rein zufällig. Aber dieses kleine Kitzeln geht mir wie eine Schockwelle durch Mark und Bein, und meine Haut lädt sich elektrostatisch auf. Ich schaue immer noch auf seinen Skizzenblock, spüre, wie mein Gesicht erst heiß, dann kalt und dann wieder heiß wird. Ohne nachzudenken, drücke ich meinen Oberarm an seinen, so fest, dass es nicht nur zufällig wirkt. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich kann es nicht bleiben lassen. Jack holt Luft. Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass seine Wimpern zucken. Er erwidert den Druck nicht, aber er weicht auch nicht aus. Die Luft um uns herum wird warm und schwer, sie schimmert rötlich. Dann geschieht es. Jack nimmt den Zeichenblock in die andere Hand und berührt mit seinem Knöchel mein Handgelenk. Ich spüre, wie ein heißer Schauer mich durchströmt. Ich bin wie gebannt.
»Wonach hast du übrigens gesucht?«, frage ich schließlich mit schwacher Stimme und bereue es sofort. Die Spannung ist dahin. Jacks Lächeln verschwindet, und auch die Farbe weicht aus seinem Gesicht. Nur seine Bartstoppeln schimmern bläulich.
»Ach, eigentlich nach gar nichts«, sagt er gedämpft. Dann dreht er sich um und verschwindet in die Nacht, ohne sich zu verabschieden.
Ich bleibe eine Weile sitzen, presse die flache Hand an den Mund. Ich versuche mich zu sammeln. Es will mir nicht gelingen, also packe ich meine Sachen zusammen. Jacks Geruch hängt immer noch im Saal. Eine Mischung aus muffigen Secondhandkleidern, Ölfarbe und Leder. Ich bin müde, und meine Schulterblätter schmerzen, aber die Gedanken bewegen sich mit manischer Energie. Ich spüre mein Zwerchfell, und es dauert einige Sekunden, bis ich begreife, dass meine Lachmuskeln überbeansprucht wurden. Während ich das Licht lösche, räuspere ich mich unnötigerweise einige Male, nur weil ich so gern noch einmal diese zur Fröhlichkeit bestimmten Muskelpartien spüren möchte.
Ich schalte das letzte Licht aus,
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