Abschiedskuss
spüle ich den Mund aus und spucke Blut auf das Emaille. Das Blut vermischt sich mit dem laufenden Wasser, bildet Streifen und hinterlässt gelbliche Fäden. Es sieht schmutzig aus. Ich beuge mich zum Spiegel vor, ziehe die Oberlippe hoch und blecke die Zähne zu einem Raubtierlächeln. Sie sind nicht schwarz, sondern hellrot.
»Warum warst du die ganze Zeit so voller Wut, so verdammter Wut?«, knurre ich sie an. Mein eigenes Spiegelbild.
»Weil sich mein Leben nicht so gestaltet hat, wie ich es wünschte«, antwortet mein Spiegelbild leise.
»Das war meine Schuld«, schluchze ich.
»Nein«, sagt das Spiegelbild. »Das war nicht deine Schuld.«
Ich schlage mit der Stirn ein paarmal fest gegen das Glas.
»Alles in Ordnung da drin?«, fragt eine ferne Frauenstimme von der anderen Seite der Tür.
»Jaja, alles okay. Mir ist nur was runtergefallen«, stoße ich mit schriller, verzweifelter Stimme hervor. Dann überkommt mich ein Gefühl der Scham. Rasch versuche ich, den Spiegel mit einem rauen Papierhandtuch zu reinigen. Anschließend reibe ich mir mit einem weiteren Papierhandtuch das Gesicht ab. Es scheuert, und meine Stirn schmerzt. Gut. Gut, dass ich etwas spüre. Ich ordne mein Haar, knöpfe meinen Mantel bis zum Hals, spucke noch einmal Blut ins Waschbecken, lasse rasch etwas Wasser laufen, schließe auf und tauche wieder in das freundliche Gemurmel der Buchhandlung ein.
Die Person, die wissen wollte, wie es mir geht, ist nicht mehr da. Aber ein kleines Mädchen hampelt direkt vor den Toiletten herum. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, sie hüpft zu schnell, aber sie hat Gummistiefel, gestreifte Cordhosen, zwei zerzauste Zöpfe und ein herrlich übermütiges Lachen. Das Mädchen ist auf der Flucht vor einem abgehetzten Elternteil und hält unzählige Ansichtskarten in der Hand. Sie verschwindet hinter einem Ständer mit Weihnachtspapier und nimmt ihr exaltiertes Kichern mit. Aber eine einzelne Postkarte fällt ihr aus den Händen, segelt wie ein Papierflugzeug durch die Luft und fällt mir vor die Füße. Ich beuge mich vor und wende sie, obwohl ich bereits weiß, was kommt.
Es handelt sich um eine Glückwunschkarte. Happy Birthday to you . Das Motiv ist ein künstlerisches Blumenfoto. Ein großer, taufeuchter Strauß Maiglöckchen.
14. Kapitel
Ich spaziere Richtung Bahnhof. Es ist ein schöner Herbstmorgen, das muss ich zugeben. Zarter Sonnenschein, der von goldgelben Mauern reflektiert wird. Aber aus irgendeinem Grund färbt die Schönheit um mich herum nicht auf meine Stimmung ab. Sie erreicht nur die Augen.
Kinder benötigen offenbar jemanden, der ihnen beibringt, was als schön gilt. Der Schönheitssinn wird von den Vorstellungen der Erwachsenen geprägt und begrenzt. Schau mal, was für wunderbare Blumen, was für eine großartige Aussicht, was für ein schönes Gemälde! Ich denke darüber nach, während ich mich noch einmal vergewissere, dass Inspektor Kings Visitenkarte mit der Adresse der Polizei von Brighton sicher in meiner Manteltasche steckt.
Als ich King anrief, klang er, als hielte er es für die natürlichste Sache der Welt, dass wir uns wieder treffen. Von Angesicht zu Angesicht. Seine freundliche Professionalität wirkte ermutigend.
»Und das Schild, das Sie auf dem Pier aufgehängt haben? Mit dem Sie Zeugen auffordern, sich zu melden? Ich glaube, dass der Wind es bald wegwehen wird«, wagte ich am Telefon einzuwenden. Es war nur so eine Befürchtung. Ein beunruhigendes Gefühl in der Magengegend.
»Right … Durchaus, für die Jahreszeit ist es schließlich ungewöhnlich stürmisch, das haben Sie vielleicht im Fernsehen mitbekommen. Wir sollten das auf jeden Fall überprüfen«, sagte er.
»Danke«, erwiderte ich und erwähnte nicht, dass ich schon seit Monaten keinen Wetterbericht mehr gesehen habe. Auch sonst kein Fernsehen.
»Da wäre noch etwas …«, fuhr ich fort. »Haben Sie diese Schilder nicht auch kleiner? Im DIN-A4-Format, aber mit denselben Informationen? Datum, das Bild meiner Mutter und was passiert ist?«
»Ja.«
»Können Sie die nicht in den Suppenküchen und Obdachlosenasylen aufhängen?«
»Das haben wir bereits getan. Zu Beginn des Herbstes«, sagte er.
»Tun Sie es bitte noch einmal. Meinetwegen. Die alten Schilder sind vermutlich inzwischen von neuen überklebt. Es gibt sicher Obdachlose, die eine Weile nicht in der Stadt waren. Vielleicht bei einer Entziehungskur oder so.«
»Da haben Sie recht«, erwiderte King mit einer neuen Schärfe in der Stimme.
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